Serbischer Regierungskritiker: "Ich bin ein Abschreckungsbeispiel"

Zwei Jahre verließ Marko Vidojković sein Zuhause in Serbien kaum - nun wohnt er an einem unbekannten Ort.
Zehntausende Menschen gehen in der serbischen Hauptstadt Belgrad derzeit regelmäßig auf die Straße. Auslöser dafür waren zwei Amokläufe Anfang Mai, bei denen 17 Personen starben - darunter viele Kinder. Die Proteste richten sich auch gegen die von Präsident Aleksandar Vučić kontrollierten Boulevardmedien, die laut Kritikern Gewalt verherrlichen.
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Marko Vidojković kennt die serbische Medienlandschaft und ihre Probleme gut. Der Belgrader Schriftsteller und Journalist ist für seine jahrelange Regimekritik bekannt. Nach Veröffentlichung seines jüngsten Romans 2020 erhielt er Hunderte Morddrohungen, wie er selbst sagt. Mithilfe des Schriftstellerverbands PEN International verließ er Serbien. Ob er je in seine Heimat zurückkehrt, weiß er nicht.
KURIER: Herr Vidojković, Sie befinden sich an einem der Öffentlichkeit unbekannten Ort. Wo auch immer Sie sind, fühlen Sie sich sicher?
Marko Vidojković: Nicht ganz. Meine Frau und ich werden auch hier ständig davor gewarnt, uns nicht zu sehr zu entspannen und vorsichtig zu sein. Es ist aber jedenfalls besser als in Serbien, wo wir ganze zwei Jahre lang die Wohnung nicht verlassen konnten. Ich bin damals vor unserem Haus mit Schlägen bedroht worden. An manchen Tagen bekam ich 30 Morddrohungen - die Palette reichte vom Kopfschuss über das Herausreißen meiner Zunge bis hin zum Abhacken meiner Finger, damit ich nicht mehr schreiben könne.
Wie sind Sie eigentlich zu einer Zielscheibe geworden?
Ich bin aufgrund meiner regierungskritischen Texte ins Visier der Regimemedien geraten. Hochrangige Politiker, ja sogar der Präsident hat mich öffentlich bloßgestellt, zu einer Persona non grata erklärt. Die Premierministerin Ana Brnabić schrieb im Herbst 2021 einen offenen Brief an mich. Dieser medialen Hetzkampagne folgte eine Salve von Drohungen, Beleidigungen und schlussendlich Morddrohungen. Ich habe irgendwann aufgehört, die Anzahl der Morddrohungen zu zählen, bin mir aber sicher, dass es Hunderte waren. Die Hetze begann im Frühjahr 2021 und nahm bis heute kein Ende.
Was wirft Ihnen die serbische Regierung vor?
Dass ich ein Verräter oder ein Oppositionsführer sei - dabei gehöre ich keiner Partei an und bin eigentlich ziemlich unsichtbar. Mein Podcast hat pro Folge vielleicht 100.000 Aufrufe pro Woche. Das ist nichts im Vergleich zur Reichweite, die TV-Sender auf Regierungslinie haben. Vučić lässt aber keine einzige kritische Stimme laut werden.
In Ihrer Kolumne beschreiben Sie Parallelen zwischen Serbien und Russland. Welche halten Sie für die problematischsten?
Serbien erscheint mir wie der jüngere, schwächere und dümmere Bruder Russlands. Eine Ähnlichkeit ist, dass unqualifizierte Männer wichtige Posten besetzen. In Serbien ist etwa ein ehemaliger Grillimbiss-Besitzer Geschäftsführer des staatlichen Energieversorgers, der Direktor des Sicherheitsinformationsdienstes ist gelernter Fliesenleger. Außerdem gehen sowohl Putin als auch Vučić aggressiv gegen Regierungskritiker vor. Ich muss aber betonen, dass die Lage in Russland doch schlimmer ist - auch, weil Serbien von NATO-Ländern umgeben und EU-Beitrittskandidat ist.
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Sehen Sie Serbien auf dem Weg in die EU?
Serbien hat seit zwei Jahren kein neues Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen eröffnet. Das sagt wohl einiges aus. Man hat bemerkt, dass in Serbien etwas falsch läuft. Der Westen fragt sich: "Wollen die Typen, die Serbien regieren, auch wirklich in die Europäische Union? Wird das Land tatsächlich demokratisch geführt?" Meine Antwort lautet: "Nein, das sind keine Demokraten, sondern Populisten, Diebe und Betrüger, die Gruppen der organisierten Kriminalität leiten". Deshalb ist jeder Kritiker für sie so gefährlich.
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Werfen Sie der EU vor, dass sie bei Serbien zu sehr durch die Finger schaut?
Ich bin wirklich sehr enttäuscht und traurig darüber, dass der Westen Aleksandar Vučić nicht früher durchschaut hat. Der Westen vertraut ihm immer noch, dass er eine Lösung für den Kosovo finden wird. Ich weiß jedoch nicht, was es im Kosovo noch zu tun geben soll. Alles wurde 1999 erledigt, als der Krieg endete, bzw. 2008, als das Land seine Unabhängigkeit erklärte.
Schriftsteller, Journalist und Fernsehmoderator Marko Vidojković wurde 1975 in Belgrad geboren. Er äußert sich seit Jahren regelmäßig zu politischen und gesellschaftlichen Themen, unter anderem auch in seinem Podcast Dobar, Loš, Zao (Die Guten, die Bösen und das Böse). Er verfasst tägliche Kolumnen für die unabhängige Tageszeitung Danas.
Vidojković ist Autor mehrerer Bücher. Zu seinen Bestsellern gehört u.a. der dystopische Roman Đubre (Müll), der sich mit Korruption befasst.
Wie sichtbar sind denn Vučićs Medienkontrolle und Politik in der serbischen Gesellschaft?
Es herrscht eine kollektive Apathie. Ich habe das Gefühl, dass die meisten Menschen daheimsitzen und beobachten, ob er schwächer oder stärker wird. Sollte er schwächeln, würden ihm viele den Rücken kehren. Ich fürchte, ich bin ein Abschreckungsbeispiel für diejenigen, die Kritik äußern wollen. Nicht viele möchten ein Leben, wie ich es in Serbien führte. Durch Einschüchterung von Andersdenkenden beweist Vučić, wie mächtig er ist. Er regiert das Land mit Angst.

"Wirklich patriotisch, für die Zukunft, für unsere Kinder?" - die Proteste gegen Serbiens Regierung dauern an.
Vučić erlebt gerade die größten Proteste jemals gegen sich. Glauben Sie, dass sie etwas bewegen können?
Nur ein Wandel innerhalb des Regimes kann zu einem Wandel in der Gesellschaft führen. Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter müssten endlich anfangen, ihre Arbeit zu machen. Es bräuchte Leute in der Regierungspartei, die einsehen, dass wir so nicht weiterleben können. Die Proteste sind die größten, aber nicht die einzigen, die es gegen die Regierung je gab – schon 2017 gingen Demonstrationen ergebnislos zu Ende. Die Opposition ist zu schwach, um Vučić zu besiegen. Daher fürchte ich, dass auch diese in eine Sackgasse führen werden.
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