Juncker: "Kerneuropa hilft uns nicht weiter"
KURIER: Herr Präsident, was fällt Ihnen zum Stichwort "Weckruf für Europa" ein?
Jean-Claude Juncker: Europa ist bereits hellwach. Wenn ich mit den Menschen spreche, dann gibt es viele, die sich wegen der Populisten Sorgen machen. Diese spielen bewusst mit den Ängsten der Menschen, die fürchten, dass Globalisierung und Digitalisierung ihr Leben aus den Fugen bringen. Die Populisten haben aber keine Antwort. Sie suggerieren, dass man sich vor der Globalisierung im nationalen Zuhause verstecken kann.
Was sagen Sie den Bürgern?
Im Wettbewerb mit aufstrebenden Wirtschaftsmächten, können wir die Spielregeln nur dann zu unseren Gunsten gestalten, wenn wir zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht auf den Vereinfachungswettbewerb der Populisten einlassen. Wer Wählern nachläuft, sieht sie nur von hinten und erstickt jede Diskussion. Wir brauchen echte Antworten – und so eine Antwort ist Europa.
Brexit, Flüchtlingskrise, Arbeitslosigkeit und Trump als neuer US-Präsident, von dem populistische, rassistische und sexistische Äußerungen bekannt sind. Schafft das die EU?
Ich bin realistischer Optimist. Die 28 Mitgliedsstaaten sehen ein, dass sie viele der Herausforderungen – von Migration über Klimawandel bis hin zur Globalisierung – nicht alleine lösen können. Wir werden die Sicherheitsunion ausbauen, uns enger vernetzen und Informationen austauschen, um den Terrorismus zu bekämpfen. Wir werden in der Verteidigungspolitik Kräfte bündeln und gemeinsame Mittel besser ausnutzen. Und wir werden der erfolgreichen Investitionsoffensive noch mehr Kraft verleihen, so dass wir insgesamt 630 Milliarden Euro an neuen Investitionen freisetzen können. Das schafft Arbeitsplätze und Chancen. Wenn jetzt alle an einem Strang ziehen, können wir den Menschen beweisen, dass Europa ihnen Sicherheit und Chancen gibt.
Krisen haben die EU stärker gemacht. Gilt das noch heute?
Krisen haben Europa in der Tat immer stärker gemacht. Europa ist quasi eine Geschichte der Lernerfolge. Das begann schon mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft, als die Generation Lehren aus dem Hass und dem Krieg zog. Zuletzt haben wir aus der Euro- und der Flüchtlingskrise gelernt und in beiden Fällen Lücken im Europäischen Haus geschlossen. Mit der Bankenunion stellen wir sicher, dass grenzüberschreitend tätige Banken auch europäisch beaufsichtigt und abgewickelt werden, so dass nicht mehr der Steuerzahler einspringen muss. Und mit der EU-Grenz- und Küstenwache schützen wir erstmals gemeinsam unsere Außengrenzen.
Warum werden die gemeinsamen Erfolge der EU nicht ausreichend vermittelt?
Hinter den Erfolgen stehen immer alle Mitgliedsländer, bei Misserfolgen gibt es zu oft eine Verantwortungsverschiebung. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Politiker die gemeinsam in Brüssel beschlossenen Regeln schon im Flieger vergessen und zu Hause Opposition dagegen spielen. Sei es nun aus Verantwortungs- oder Gedankenlosigkeit – beides sind keine guten Eigenschaften für einen Politiker. Eine Lehre aus der Poly-Krise ist, dass wir mehr europäisches Verantwortungsgefühl brauchen. Das würde uns stärker machen.
Braucht die EU ein Kerneuropa, um aus der Krise zu kommen?
Zusätzliche theoretische Konstrukte helfen uns im Moment nicht weiter – ebenso wenig wie eine Spaltung in ein Kerneuropa. Das Ergebnis wäre eine zerrüttete Familie, die nicht mehr zusammenhält. Eine Familie würde das nach innen wie nach außen schwächen. Und so wäre das auch bei der Europäischen Union. Deshalb brauchen wir eine positive Agenda, die uns eint. Das gilt jetzt nach dem Brexit mehr denn je. Europas Errungenschaften wie der Euro, der uns Stabilität beschert hat, und Schengen, das uns Freizügigkeit beschert hat, zeigen, dass es sich lohnt, wenn einige vorangehen und der Rest dann mitzieht. Zusammenhalten in stürmischen Zeiten wie jetzt ist im Interesse aller.
Was sagen Sie zum Brexit-Chaos in London?
Das erinnert mich leider an die Kampagne vor dem Brexit, als viele Politiker, die vorher jahrelang montags bis samstags nur über die EU geschimpft hatten, um dann plötzlich am Sonntag von Europa überzeugen zu wollen. Doch so unklar die Gemengelage in London ist, so klar ist die geeinte Position der Europäischen Union: Wir sind vorbereitet, mit fairen Scheidungsverhandlungen zu beginnen sobald der offizielle Scheidungsantrag bei uns eintrifft. Unser Ziel ist es, rasch Gewissheiten zu schaffen, weil Bürger, Wirtschaft und Politik wissen müssen, woran sie sind.
Wollen Sie den Briten entgegenkommen?
Es ist klar, dass sich Großbritannien nicht die Rosinen herauspicken darf. Wer die Vorteile des Binnenmarktes genießen will, muss verstehen, dass die vier Freiheiten untrennbar sind. Wenn Waren, Dienstleistungen und Kapital nicht mehr an Grenzen halt machen müssen, dann muss diese Freiheit erst recht für die Menschen gelten, die der eigentliche Grund ist, warum es den Binnenmarkt gibt.
Trump droht der NATO. Braucht die EU nicht dringend eine EU- Verteidigungspolitik und eine europäische Armee?
Unabhängig vom Wahlergebnis in den USA können wir es nicht anderen überlassen, für unsere Sicherheit zu sorgen. Eine europäische Armee ist ein Langzeitprojekt, das unserer Außen- und Sicherheitspolitik langfristig zusätzliches Gewicht verleihen kann. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Kommission legt dazu Ende des Monats Vorschläge vor, so dass die Mitgliedsländer nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander forschen und investieren. Die fehlende Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen kostet Europa jedes Jahr zwischen 25 und 100 Milliarden Euro. Geld, das wir besser in unsere Zukunft investieren.
Im März 2017 feiert die EU ihren 60. Geburtstag. 1957 wurden die Römischen Verträge, die Basis der EU, beschlossen. Was wünsche Sie der EU?
Für mich ist Europa nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern des Herzens. Europa ist das Grundgefühl von Frieden, Sicherheit und Chancen. Zum Jubiläum der Römischen Verträge würde ich mir wünschen, dass wir – so wie die Generation vor uns – das enorme Potenzial dieses Projektes für die Zukunft begreifen und ausschöpfen.
Wie wollen Sie dieses Europa retten?
Wir werden unsere konkreten Ideen dazu vorstellen, mit denen wir in einer immer vernetzteren Welt unsere Art des Lebens, den sozialen Frieden, schützen können. Wir müssen unseren Platz in der Welt betrachten. Während wir Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch etwa ein Viertel der Weltbevölkerung repräsentierten, machen wir heute gerade mal acht Prozent aus – und 2050 wird unser Anteil fünf Prozent betragen. Europa ist also nicht nur ein Auftrag aus der Geschichte, sondern auch ein Auftrag für die Zukunft.
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