In der Türkei "ist bald alles möglich"

Wollen nicht erkannt werden: Türkische Ex-Offiziere im Exil
Desertierte Offiziere im Exil über Präsident Erdoğan: "Er führt das Land wie ein Mafia-Eigentum".

In der hintersten Ecke eines tristen belgischen Vorstadt-Cafés haben Fatih und Hakan Platz genommen. Keine fremden Ohren sollen ihre Geschichte hören. Die beiden türkischen Offiziere fürchten um ihre Sicherheit, in den staatsnahen türkischen Medien gelten sie als "NATO-isten", schlimmer noch als "Terroristen".

Der Tag des gescheiterten Putschversuches in der Türkei, jener verhängnisvolle 15. Juli 2016, hat das Leben der beiden Männer und ihrer Familien für immer verändert. Bis dahin gehörten sie zur türkischen militärischen Elite, teils ausgebildet in den USA, stationiert im NATO-Hauptquartier in Brüssel und in Mons. Heute sind sie staatenlos, Asylsuchende in Belgien. Ihre Diplomatenpässe wurden eingezogen, ihr Besitz in der Türkei konfisziert. Rückkehr unmöglich. So wie alle rund hundert türkischen Familien von Diplomaten und Militärs, die in den vergangenen Monaten in Belgien Asyl beantragt haben, leben sie nur von ihren Ersparnissen.

"Heimkehr, sofort!"

"Als die ersten Säuberungen in der Armee begannen, gleich nach dem Putschversuch, habe ich mich vollkommen sicher gefühlt", erzählt Fatih dem KURIER. "Wir hier hatten mit dem allem ja nichts zu tun, und ich hätte nie gedacht, dass sie mich rauswerfen würden." Doch Ende September kam ein Brief aus Ankara. Gerichtet an rund 200 Diplomaten und Militärs in Brüssel, mit der knappen Botschaft: Heimkehr, sofort!

"Das war sehr ungewöhnlich, normalerweise hätte man einen 40 Seiten langen Brief bekommen, in dem drinnen steht, wo der nächste Einsatzort ist, wo alles detailliert aufgelistet wird, wie die nächsten Jahre ablaufen werden. Doch hier hieß es nur ohne Erklärung, wir müssten zurück." Da waren die Säuberungen der türkischen Führung längst im Gange,Zigtausende Menschen entlassen, suspendiert oder verhaf-tet. Berichte von Folterungen von inhaftierten Bekannten drangen bis nach Belgien.

In der Türkei "ist bald alles möglich"
Turkish soldiers participate in an exercise on the border line between Turkey and Syria near the southeastern city of Kilis, Turkey, March 2, 2017. REUTERS/Murad Sezer
Trotzdem brach in Brüssel die Diskussion los. Man habe ja nichts zu verbergen und könne also auch guten Mutes heimkehren, sagten einige der entlassenen Militärs. "17 von ihnen sind gegangen", schildert Fatih, "und fast alle wurden verhaftet. Einige schon bei der Ankunft auf dem Flughafen." Was ihm sowie allen anderen rund 600 an NATO-Staaten entsandten türkischen Armeeangehörigen konkret vorgeworfen wird, weiß niemand. Deutschland und Norwegen haben den geschassten Offizieren und ihren Familien bereits Asyl gewährt. Vom Erdoğan-Regime aus Ankara gab es dafür harsche Schelte für Berlin und Oslo, für die "Verräter" sowieso.

Vorbereitete Listen

Hakan ist überzeugt, dass die Gefolgsleute des türkischen Präsidenten "schon vor langer Zeit damit begonnen haben, Listen von Leuten anzulegen, die sie los werden wollten". Diplomaten, Offiziere, Intellektuelle, gut Ausgebildete. Kurz: "Alle, die sich nie im Leben mit einer autokratischen Regierung im Erdoğan-Stil abfinden können." Sein Beweis: Auf diversen Listen von Putschverdächtigen fände sich auch der Name eines ihm bekannten Offiziers, der vor Jahren in Afghanistan umgekommen sei.

Hakan zückt sein Handy und spielt ein wenige Tage altes Video vor. Die gesamte neue Heeresführung ist dabei zu sehen, wie sie eine Moschee besucht. "Das wäre früher undenkbar gewesen", empört sich der Ex-Offizier, "nie wäre die Armee-Spitze in eine Moschee gegangen." Aber jetzt sei sie Teil des politischen Systems. "Erdoğan hat seinen Plan durchgesetzt, er hat jetzt vollen Durchgriff auf die Medien, die Justiz, die Armee. Die gesamte Armeeführung sollte bereinig werden. Und so ist es geschehen: 90 Prozent der Generalstabsoffizie-re wurden beseitigt, mehr als 50 Prozent der Generäle. "Man könnte auch sagen", meint Hakan, "man hat das Gehirn der Armee ausgetauscht."

In der bangen Gewissheit, viele Jahre, vielleicht nie wieder zurück in die Heimat zu können, warten Fatih, Hakan und deren Familien auf die Entscheidung der belgischen Asylbehörden. Den Kontakt zur großen türkischen Gemeinschaft in Belgien meiden sie. Es gibt hier viele fanatische Erdoğan-Anhänger. Drei Viertel der Türken in Belgien, die im April beim Verfassungsreferendum teilnahmen, haben für die Ausweitung der Macht des türkischen Staatschefs gestimmt. Die Stimmung ist äußerst gereizt gegen alle, die man der Feindschaft gegenüber der Führung in Ankara verdächtigt.

"Keine Gegenreaktion"

Beide gefeuerten Offiziere befürchten für die Türkei eine weitere Verschlimmerung der Lage. "Erdoğan wird so weitermachen, er spürt ja auch von internationaler Seite keine Gegenreaktion. UNO, NATO, EU, alle halten sich seltsam zurück, ja, man braucht die Türkei als strategischen Partner oder wegen des Flüchtlingsdeals. Nur Deutschland reagiert jetzt ein bisschen härter."

Das vermeintliche Angebot aus Ankara, den inhaftierten deutschen Journalisten Deniz Yücel gegen zwei nach Deutschland geflohene türkischen Generäle auszutauschen, tat man in Berlin als Gerücht ab. Für Hakan und Fatih aber passt es ins Bild. "Das Erdoğan-Regime führt das Land nicht wie einen Staat, sondern wie ein Mafia-Eigentum. So ein Austausch, was wäre das anderes als Menschenhandel?" Aber in einem Land, dessen Präsident immer öfter die Todesstrafe herbeiwünscht und der in aller Öffentlichkeit droht, "den Feinden die Köpfe abzureißen", in so einem Staat, befürchtet Hakan, "ist bald alles möglich".

Folgen des Putsches

Die türkische Führung hat seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 alle Regime-Kritiker im Visier. Sie werden als Anhänger der Gülen-Bewegung oder als Terrorunterstützer beschuldigt.
Gefeuert wurden 146.000 Beamte, Polizsten, Lehrer zusätzlich 9000 Universitätsangestellte und 4500 Richter und Staatsanwälte.
Festgesetzt: 120.000 Menschen.
In Haft: 57.000 Menschen, darunter 274 Journalisten.
Geschlossen: 2100 Schulen, Universitäten sowie 149 Medien.

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