Am Vorabend des 7. Oktober ist Lucie Marks-Neumann von einem "wunderschönen Urlaub in Wien" in ihre Wahlheimat Israel zurückgekehrt. Die 62-Jährige ist gebürtige Österreicherin, Tochter von Holocaust-Überlebenden und vor 34 Jahren nach Israel gezogen. Sie lebt in Raanana, einer Stadt nördlich von Tel Aviv, und arbeitet als Psychotherapeutin. "Ich freute mich darauf, einen ruhigen Samstag zu verbringen", erzählt sie dem KURIER. "Nichts wies darauf hin, was an diesem Samstag passieren würde."
Seit dem 7. Oktober hat sich ihr Arbeitsalltag grundlegend verändert. "Viele Menschen suchen nach Hilfe, um diese verrückte Realität irgendwie zu meistern. Manchmal ertönt der Alarm während einer Therapiesitzung. Ohne Worte begebe ich mich mit meinem Patienten in den Schutzraum, und wir kommen nach einigen Minuten zurück, um dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben. Absurd."
Menschen mit psychischen Problemen wurden durch die traumatischen Ereignisse zusätzlich belastet. Eine 84-Jährige, die ursprünglich wegen eines Krebsleidens in die Praxis kam, erzählte, dass ihr Sohn, der mit seiner Familie in einem der überfallenen Kibbuzim lebt, zu den Vermissten zählt. Eine andere Patientin berichtete, dass die Enkelin ihrer Schwester, eine 25-jährige Studentin, unter den Ermordeten sei. "Ein ehemaliger Patient schrieb mir eine SMS. Darin stand nur: Mein Sohn ist tot. Erschossen. Kann ich kommen?"
Überleben
Nebenbei tat sich ein neuer Arbeitsbereich auf: die Betreuung der Überlebenden und etwa 100.000 Evakuierten aus den zerstörten Siedlungen und umliegenden Städten. Sie sind in Ferienorten am Roten Meer untergebracht, wo Hunderte Psychiater, Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter Volontärdienst leisten.
Auch Marks-Neumann war dort, 24 Tage seit dem 7. Oktober. "Es ist schwer zu beschreiben, was wir da - in dieser surrealen Umgebung - erlebt haben", sagt sie. Menschen in der Hotellobby, am Pool, im Restaurant, die auf den ersten Blick aussehen wie normale Urlauber. Doch es sind Bewohner eines Kibbuz, von dem ein Viertel der Bewohner verschleppt oder ermordet wurde. "Sie sitzen da, sprechen leise miteinander, viele schauen in ihr Handy, lesen Zeitung."
Exemplarisch erzählt die Therapeutin von der Begegnung mit einem 78-jährigen Mann, der den Kibbuz vor vielen Jahren mitbegründet hat. Am Morgen des 7. Oktober flüchtete er mit seiner gleichaltrigen Frau in den Schutzraum, er lungenkrank, sie frisch am Herzen operiert. Zehn Stunden harrten sie aus, ohne Wasser, ohne Toilette, bis es im Raum heiß und stickig wurde.
Als sie es nicht mehr aushielten, stießen sie die Tür auf und rannten – barfuß und in der Erwartung, erschossen zu werden – durch dichte Rauchschwaden ins Freie. Die Terroristen hatten ihr Haus angezündet, um sie lebendig zu verbrennen. Das Paar wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Frau starb an ihren Verletzungen.
"Anscheinend gaben ihm meine Tränen die innere Erlaubnis, ein wenig loszulassen", erinnert sich Marks-Neumann. "Er sagte, er habe noch nicht geweint seitdem: Nicht um seine Frau, nicht um seinen Sohn und seine Schwiegertochter, die nach Gaza verschleppt wurden, nicht um seinen Kibbuz, den es nicht mehr gibt."
Ein anderer, etwa 30-jähriger Mann kämpft - wie viele Überlebende - mit Schuldgefühlen. "Er sagte mir: ,Ich schäme mich, aber als ich meinen Bruder begrub, war ich glücklich. Glücklich, dass er ein Grab hat, im Gegensatz zu meinen Freunden, die nicht wissen, wo ihre Lieben sind."
Was alle Patientengespräche eine, sei das erschütterte Grundvertrauen und der Kontrollverlust seit dem 7. Oktober. "Menschen fragen sich wieder und immer wieder, wo war der Staat, wo war das Militär? Wie konnte das passieren? Das Grundvertrauen, nämlich dass wir uns darauf verlassen können, in Sicherheit-, oder wie es hier in Israel ist-, in relativer Sicherheit zu leben, ermöglicht es Menschen, ein normales Leben zu führen, die Zukunft zu planen, usw. Das ist die Grundlage für das, was wir hier als ,normal' empfinden." Eine Normalität, die es derzeit nicht mehr gibt.
Weiterleben
Für Marks-Neumann und ihre Kollegen, die es gewöhnt sind, die eigene Gefühlswelt in der Arbeit mit Patienten auszublenden, stellt sich seit dem Anschlag eine Frage: Wie hilft man, wenn man selbst Teil des nationalen Traumas ist? Diese "sekundäre Traumatisierung" soll Schritt für Schritt in Arbeitskreisen bewältigt werden. "Aber im Moment denken wir weniger an uns, sondern mehr daran, wie und wie vielen wir helfen können."
Diese Hilfe erfolgt in erster Linie durch Zuhören. "Wir helfen Betroffenen dabei, das Erlebte, das oft nur aus Bildern, Geräuschen, Gerüchen oder abgerissenen Gedanken besteht, in eine kohärente Geschichte umzuwandeln, damit das Grauen, hoffentlich, irgendwann, als Teil der eigenen Biografie eingegliedert werden kann."
Der Massenmord der Hamas habe den bisher tiefsten Riss im israelischen Leben verursacht. Doch Marks-Neumann ist zuversichtlich, dass der Heilungsprozess, so lange und schmerzhaft er sein mag, gelingen wird. Die meisten Überlebenden wollen in ihre zerstörten Kibbuzim zurückkehren, sie wieder aufbauen. "Israelis sind starke Menschen, die es immer wieder schaffen, ins Leben zurückzukommen."
(kurier.at, jup)
|
Aktualisiert am 12.11.2023, 11:29
Kommentare