Im Parlament in London droht ein Tauziehen um jede Stimme

Labour-Chef Corbyn wartet auf seine Chance
Widerstand wächst. Die Hoffnung von Premier Boris Johnson sind Überläufer von der Labour-Opposition

Ginge es nach Jeremy Corbyn, wäre der Brexit-Deal von Premier Boris Johnson schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Denn der Labour-Chef erteilte seiner Partei schon am Donnerstag die Order für den alles entscheidenden kommenden Samstag im Londoner Unterhaus: Es wird mit Nein gestimmt. Das Ziel heißt Neuwahlen in Großbritannien so rasch wie möglich – und danach ein zweites Referendum über den EU-Austritt.

Doch so einfach sind die politischen Verhältnisse nach drei Jahren Brexit-Tauziehens nicht. Zwar hat Jeremy Corbyn seine Partei grundsätzlich fest im Griff, doch was den Brexit anbelangt, gibt es in vielen traditionellen Labour-Regionen im Norden Englands eine sich verhärtende Grundhaltung: Bringt das endlich hinter euch! In diesen alten Industriegegenden haben die Menschen schon 2016 für den Brexit gestimmt – und der jetzt von Boris Johnson ausgehandelte Deal gilt für die dortigen Labour-Abgeordneten als akzeptabel. Wenn man jetzt dafür stimmt, ist die Angelegenheit zumindest einmal vom Tisch und man kann sich wieder der britischen Innenpolitik und dem schwächelnden Premier widmen.

Labour-Rebellen als Hoffnung

Diese Labour-Stimmen, so das Kalkül von konservativen Parteistrategen, könnten Boris Johnson und seinem Deal am Samstag die Mehrheit retten. Um die 320 Stimmen im Unterhaus – abhängig von den Enthaltungen – sind dafür notwendig. Bei der eigenen Partei ist da derzeit nicht viel zu holen. Der Großteil der konservativen Abgeordneten ist im Boot, die anderen überzeugten EU-Gegner sind für diesen Brexit-Deal nicht mehr zu gewinnen. Sie wollen raus aus der EU, und das am allerbesten ohne Abkommen. Zugeständnisse, wie sie Johnson jetzt gemacht hat, sind für sie inakzeptabel.

Ängste in Nordirland

Ebenfalls auf das „Nein“ zum Deal eingeschworen sind die schottischen Nationalisten der SNP. Sie lehnen jeden Brexit-Deal ab und haben als einziges Ziel den Verbleib in der EU – als Teil von Großbritannien, oder – noch viel lieber – als unabhängige Nation Schottland. Die nordirische Protestantenpartei DUP dagegen war lange verlässlicher Partner der Konservativen und stützte auch deren Regierung. Doch von Boris Johnson fühlt sich die pro-britische DUP im Stich gelassen. Bei der Kleinpartei – so wie bei allen nordirischen Protestanten – geht die Angst um, dass der jetzt ausverhandelte Brexit das britische Nordirland immer mehr in die Arme Irlands treibt.

Unterstützung für Boris Johnson könnte gerade von jenen Abgeordneten kommen, mit denen er sich zuletzt am meisten angelegt hat. Mehr als 20 Abgeordnete haben zuletzt aus Ärger über den Anti-EU-Kurs des Premiers die Partei verlassen und versammeln sich jetzt mit einigen ehemaligen Labour-Abgeordneten in der Gruppe der „Unabhängigen“. Sie könnten sich zuletzt für den Deal entscheiden, einfach weil er zumindest das verhindert, was für diese Gruppe die schlimmste Bedrohung darstellt: den No-Deal-Brexit. Da die EU nun droht, keine weitere Verzögerung des Austritts zuzulassen, fällt am Samstag die Entscheidung genau zwischen diesen beiden Möglichkeiten: Deal oder No-Deal.Konrad Kramar

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