Mehr hat es nicht gebraucht. Seit Tagen herrscht helle Aufregung über die Assoziation von „Schutz Europas“ mit dem Thema Migration. Insbesondere die linken Fraktionen im Europäischen Parlament machen dagegen mobil, aber auch der scheidende christdemokratische Kommissionspräsident und Parteifreund von der Leyens, Jean-Claude Juncker, äußerte Kritik: „Ich denke, dass das geändert werden muss“, meinte er; der „Schutz des europäischen Lebensstils“ dürfe nicht Ablehnung der Migration bedeuten: „Diejenigen zu akzeptieren, die von weit entfernt kommen, ist Teil des europäischen Lebensstils.“
Von einem „absoluten Skandal“ sprach gar Philippe Lamberts, Fraktionschef der Grünen im EP. Mit dieser Formulierung tanze man „nach der Pfeife der Rechtsextremen“. Kritik kommt auch von Sozialdemokraten, Linken und Liberalen im EU-Parlament, auch von jenen aus Österreich. So warnte die SP-Abgeordnete Evelyn Regner vor „Ab- und Ausgrenzung“, Claudia Gamon (Neos) monierte „Vielfalt und die europäischen Grundwerte“. Schützenhilfe erhielt von der Leyen indes von der VP-Mandatarin Karoline Edtstadler, die von einem „richtigen und wichtigen Akzent“ sprach: Europa sei „von einer Jahrhunderte langen christlichen und auch jüdischen Tradition sowie von der Aufklärung geprägt“, die europäischen Werte gelte es zu verteidigen.
„Wenn ‚Protecting our European Way of Life‘ heißt, dass wir Flüchtlinge und Migranten aufnehmen, bin ich ganz einverstanden“, so der Präsident der katholischen EU-Bischofskommission ComECE, Luxemburgs Erzbischof (und demnächst Kardinal) Jean-Claude Hollerich. „Wenn es aber bedeutet, die Festung Europa abzuschotten, dann kann ich nicht einverstanden sein.“
Ursula von der Leyen hat indes selbst in einem Beitrag für die „Welt“ ihren Kritikern geantwortet. „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ – so bringe es der EU-Vertrag (Art. 2) auf den Punkt, was die „europäische Lebensweise“ ausmache. Diese aber könne es „nicht anstrengungslos“ geben, sie sei „hart erarbeitet“ worden und dürfe nicht „als Selbstverständlichkeit betrachtet“ werden.
"Legitime Ängste lindern"
Auf den Text der Kommissionspräsidentin dürften sich wohl die meisten verständigen können. Er spart freilich den zentralen Kritikpunkt gerade aus: die Verknüpfung mit der Migrationsthematik. Die freilich ist in der Sache durchaus gerechtfertigt. Von der Leyen schreibt selbst in ihren Erläuterungen zum neuen Ressort, es gelte die „legitimen Ängste vor den Folgen einer ungeregelten Migration für Wirtschaft und Gesellschaft zu lindern“. Und in ihrem „Welt“-Gastkommentar wendet sie sich direkt an ihre Kritiker: „Ich bin überzeugt, dass wir uns unsere Begriffe von Europas Gegnern nicht nehmen lassen dürfen. Die Werte in den Europäischen Verträgen zu schützen ist Grundlage unserer Identität.“
Wenn solche durchaus moderaten Formulierungen schon in die Nähe von „Rechtsextremismus“ gerückt werden, ist eine vernünftige und – ungeachtet aller Kalmierungsversuche weiterhin dringend notwendige – Debatte über Migration und ihre Folgen kaum noch möglich.
Was man Ursula von der Leyen indes vorwerfen kann, ist ihr Hang zur diffusen Unverbindlichkeit. Schon im Vorfeld ihrer Wahl durch das Europäische Parlament Mitte Juli hatte sie vielen vieles versprochen. Das eher knappe Votum ließe sich auch dahingehend interpretieren, dass, wer es allen recht machen will, es eben vielen nicht recht macht. Vermutlich aber glaubte sie, sich nur so die Zustimmung der EU-Parlamentarier sichern zu können. Die hat sie nun. Wenn sie mit ihrem Team reüssieren will, wird mehr Mut und Klarheit notwendig sein, als sie bisher erkennen ließ. Dies gilt mit Sicherheit auch für das Migrationsthema.
Nötige Rückbesinnung
Die symbolisch durchaus sinnfällige Ressortzuschreibung muss also erst mit konkreten Inhalten gefüllt werden. Wenn von der Leyen die „legitimen Ängste vor den Folgen einer ungeregelten Migration“ wirklich „lindern“ will, wird sie sehr konkrete Maßnahmen zur Eindämmung ebendieser ungeregelten Migration auf den Tisch legen müssen.
Wer die „europäische Lebensart“ schützen will bzw. das, „was Europa ausmacht“, wird aber auch nicht darum herumkommen, das spezifisch Europäische zu benennen und sich auf die geistig-kulturellen Wurzeln dieses Europas (rückzu)besinnen. Der Hinweis darauf, dass es keine festgeschriebene, unwandelbare europäische Identität gebe ist richtig – jede Identität ist im Wandel begriffen, wie jede Grenze Grauzonen kennt. Das bedeutet aber keine völlige Austauschbarkeit und Beliebigkeit. Wer nicht den Mut hat zu sagen, wer und was er sein will und was nicht, gibt sich selbst auf. Das geht freilich weit über das Thema Migration hinaus, hat aber sehr wohl auch damit ganz wesentlich zu tun.
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