Britischer Wahlkampf: Wenn Milchshakes und Argumente fliegen

Britischer Wahlkampf: Wenn Milchshakes und Argumente fliegen
Ein Monat vor den englischen Parlamentswahlen wird der Wahlkampf dreckig – nicht nur im übertragenen Sinn.

Es wird ungemütlich.

Für einige ist das im britischen Wahlkampf diese Woche wörtlich zu nehmen. Zunächst hatte Ex-Dschungelcamp-Teilnehmer und Brexiteer-erster-Stunde Nigel Farage am Montag überraschend seinen Meinungswechsel publik gemacht. Er könne seine Unterstützer nicht länger im Stich lassen und werde nun doch Chef der Partei „Reform UK“ (einst: Brexit-Partei), verkündete er Montagabend vor britischen Journalisten. 

Farage möchte die "Stimme der Opposition" werden und mehr als die 4 Millionen Stimmen gewinnen, "weitaus mehr". Er wird vor allem im Becken enttäuschter Tory-Wähler fischen und YouGov stellt ihm bis zu vier Parlamentssitze in Aussicht.

Doch nicht alle scheinen seine Rückkehr an die Parteispitze und den damit verbundenen Einstieg in den Wahlkampf zu begrüßen. Als Farage am Dienstag nach einem Medientermin in seinem neuen Wahlbezirk Clacton ein Pub verließ, schleuderte eine junge Frau ihm einen Bananen-Milchshake ins Gesicht. 

Britischer Wahlkampf: Wenn Milchshakes und Argumente fliegen

Doch eigentlich hätte der Fokus am Dienstag auf zwei anderen Politikern liegen sollen.

Am Abend hielt der Privatsender ITV die erste TV-Debatte zwischen dem konservativen Premierminister Rishi Sunak und Oppositionschef und Labour-Leader Keir Starmer ab. Und dabei wurde es für beide Kandidaten immer wieder unbehaglich. 

Sunak attackiert, Starmer appelliert

Rishi Sunak musste sich verächtliches Lachen und genervtes Stöhnen des Live-Publikums gefallen lassen, als er etwa beim Thema Gesundheitsversorgung argumentierte, dass die Warteliste für Arzt- und Spitalstermine des Gesundheitsservice NHS am Schrumpfen sei. (Die aktuelle Warteliste der Nicht-Akut-Fälle ist seit einiger Zeit tatsächlich geringer als im Vormonat. Von September 2023 bis Jänner 2024 ist sie um etwa 170.000 Plätze kürzer geworden. Das sind jedoch nur zwei Prozent der Gesamtplätze. Die Gesamtzahl der Wartenden ist seit Sunaks Amtsantritt um 320.000 Plätze gestiegen.)

Keir Starmer wiederum schwächelte angesichts Sunaks scharfer Anschuldigungen und scheiterte wiederholt daran, dessen Aussage zu entkräften, dass Labour Steuern um umgerechnet 2.300 Euro pro Familie anheben werden. 

Sunak unterbrach und attackierte seinen Kontrahenten immer wieder so vehement, dass Moderatorin Julie Etchingham wiederholt gezwungen war mit einem kalmierenden „Gentleman Please!“ einzugreifen. 

Britischer Wahlkampf: Wenn Milchshakes und Argumente fliegen

Keir Starmer - so warnte Sunak die Briten dann auch - werde „eure Renten plündern“ und er habe „keinen Plan“, um die Einwanderung zu bekämpfen. Zwei Themen, die den Engländern besonders nahe gehen.

Rishi Sunak, argumentierte daraufhin Keir Starmer, müsse sich „für die letzten 14 Jahre schämen“ und sein Plan, Geflüchtete nach Ruanda abzuschieben, sei bloße „teure Spielerei“.  Als Sunak zum verbalen Gegenangriff ansetzte und Julie Etchingham die Männer auffordern musste, "die Stimmen zu senken", musste Starmer die Moderatorin bitten, „mal kurz zu Wort kommen zu dürfen“.

Briten favorisierten Sunak

Keir Starmer zog dann sogar das argumentative Ass aus dem Ärmel  - dass nämlich, wenn Sunak tatsächlich an die Verbesserung der Lebensrealität in den nächsten Monaten glauben würde, er doch sicherlich erst später wählen ließe (wenn die Bevölkerung diese Verbesserung spüren würde und den Konservativen positiver gestimmt sei). Und obwohl Starmer zudem die Liste der Tory-Verfehlungen der 14 Jahre zur Munition gehabt hatte, konnte der Oppositionsführer die Briten nicht so richtig überzeugen. 

 

Die YouGov-Prognose für die britischen Parlamentswahlen 2024 zeigt

Keir Starmer könnte mit einer historischen Mehrheit von 194 Sitzen in die Downing Street einziehen. Mit einer zentralen Prognose von 422 Stimmen für Labour wäre dieses Ergebnis mehr als erdrutschartig. Starmers Mehrheit wäre nicht nur größer als die von Tony Blair im Jahr 1997 (179), sondern auch die zweitgrößte Mehrheit in der britischen Politikgeschichte nach Stanley Baldwins 210 Sitzen im Jahr 1924.

Nach diesem  Modell würden die Konservativen auf 140 Sitze zurückfallen. Das wäre ihr schlechtestes Ergebnis bei einer britischen Parlamentswahl für die Partei seit 1906 - der ersten Wahl, bei der die Labour-Partei, damals unter der Führung eines anderen Keir (Hardie), zweistellige Sitzgewinne (27) erzielte.

Laut Savanta liegt die Labour-Partei nun 14 Punkte vor den Konservativen. Die Umfrage, an der 2.209 Personen teilnahmen, ergab, dass die Labour-Partei bei 42 Prozent liegt (minus zwei Punkte), während die Tories auf 28 Prozent kommen (plus ein Punkt). Anfang Mai stellte Survation Labour noch eine Führung mit 20 Punkten aus. 

Eine Blitzumfrage von YouGov nach der Debatte, ergab mit 51 Prozent einen knappen Sieg für den amtierenden Premier.

Britischer Wahlkampf: Wenn Milchshakes und Argumente fliegen

Ach die britische Presse sah mehrheitlich einen überlegenen Sunak: Der „feurige Rishi“, schrieb der boulevardeske Express teilte – „Kapow!“ aus und „landete einen schweren Schlag“. Auch beim konservativen Telegraph hatte Sunak Starmer beim Thema Steuern „in die Enge getrieben“. Der liberale Guardian verurteilte zumindest Sunaks aggressives Verhalten: "Es war fast unvermeidlich, dass der Gereizte Rishi in Erscheinung treten würde", schrieb Kommentator John Crace, "das tut er immer, wenn er unter Druck steht."

Labour-Vorsprung nimmt ab

In jedem Fall sollte sich Keir Starmer nicht länger defensiv auf den Vorschusslorbeeren ausruhen. In den zwei Wochen seit dem Ausrufen des Wahltermins hat sich der Vorsprung der Labour-Partei laut Meinungsforschungsinstituts Savanta bereits von knapp 20 auf unmehr 14 Prozentpunkte verringert. 

Mehr Kopfzerbrechen als sein Konkurrent Keir Starmer scheint Rishi Sunak jedoch der soeben aufgestandene Nigel Farage zu bereiten. Denn sie könnten von 365 auf 140 Parlamentssitze herunterrasseln. Mit direktem Blick in die Kamera, appellierte Sunak also an die Briten: „Jede Stimme an eine andere Partei ist eine Stimme für Labour.“

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