Wieso England den längsten Ärztestreik in der Geschichte der NHS erlebt

Wieso England den längsten Ärztestreik in der Geschichte der NHS erlebt
Seit vergangenem September gab es in England kaum einen Werktag, an dem nicht eine Berufsgruppe ihre Arbeit niedergelegt hat

Stillstand. „Ich mache mir Sorgen“, schrieb der britische Arzt Dan Magnus auf Twitter, „dass die Öffentlichkeit streikmüde geworden ist. Die Ärzte sind es ja auch. Aber wenn wir einen gesunden NHS wollen, kann man ihm nicht einfach nur ein Geburtstagsständchen singen.“

Eine Woche, nachdem das 75. Jubiläum des NHS groß gefeiert wurde – etwa indem Sehenswürdigkeiten im ganzen Land blau erstrahlten, König Charles und Königin Camilla eine blau-weiße NHS Torte anschnitten, und Prinz William jene Frau besuchte, die als erstes NHS Baby zur Welt kam –, fand der größte Ärztestreik in der Geschichte des britischen Gesundheitssystems statt.

Fünf Tage lang, bis einschließlich heute, Dienstag, legten Zehntausende Jungärzte ihre Arbeit nieder.

Hohe Inflation

Es ist in Großbritannien längst zur Gewohnheit geworden: Das eMail-Update über den gestrichenen Zug; die Mahnung, wegen Personalmangels ausreichend Zeit am Flughafen einzuplanen; die Debatten zwischen Gewerkschaft und Politikern im Radio. Seit den ersten Streiks der Bahn-Gewerkschaft im Frühling 2022 haben so viele Berufszweige den gleichen Weg eingeschlagen, dass ein eigens eingerichteter Streik-Kalender seit September kaum einen Werktag ohne Arbeitskampfmaßnahme zeigt. Mit 11,1 Prozent Inflation vergangenen Oktober und 19 Prozent Lebensmittelinflation im April hat die Teuerung das Land besonders hart getroffen. Gleichzeitig, so der Vorwurf der Gewerkschaften, wurden Löhne nicht adäquat angepasst.

Rekord-Wartezeit

Umgerechnet 16 Euro pro Stunde, argumentiert etwa Vivek Trivedi, Co-Vorsitzender der Ärztegewerkschaft BMA. Das sei kein kompetitives Gehalt. Noch dazu nach einem langjährigen Studium. Dazu komme der Stress durch die Arbeitsbelastung, nachdem die Wartelisten Rekordhöhen erreichten. Und so wurden die Mitglieder zum vierten Mal zur Picket Line gerufen.

 

University College Hospital

Daran änderte auch das jüngste Zugeständnis von Rishi Sunak nichts. Der britische Premierminister sprach sich vergangene Woche für eine Gehaltserhöhung von sechs Prozent aus.

Während die Lehrer-Unionen ihren Mitgliedern daraufhin rieten, die bereits geplanten Streiks für den Herbst doch wieder abzusagen, blieben die Jungärzte den Spitälern wie geplant fern. „Es ist enttäuschend“, sagte Trivedi im BBC-Morgenradio, dass nicht mit ihnen gesprochen werde. „Sechs Prozent mag nach einer ordentlichen Lohnerhöhung klingen, aber bei der tatsächlichen Inflation ist es eine Lohnkürzung. Und das nach 15 Jahren stetigen Gehaltskürzungen.“

Streiksommer 

Die Ärzte sind nicht die einzigen, die im Sommer die Arbeit niederlegen: Rund 100 Security-Mitarbeiter vom Flughafen Birmingham sind bis Ende Juli im Streik. Anschließend starten rund 1.000 Mitarbeiter des Flughafen Gatwick ihren Arbeitskampf. Eine Zug-Union begann am Montag einen Überstunden-Streik; eine weitere beginnt ihre Aktion kommende Woche; dann setzen auch U-Bahnfahrer in London und Busfahrer in Manchester ihre Arbeit aus. In South Gloucestershire streiken Müll-Arbeiter. Und an 145 britischen Unis verweigern Professoren Korrekturarbeiten, bis die Gehaltsverhandlungen geklärt sind.

Kommentare