Grenzenloser Wahnsinn auf Lesbos

Täglich rund tausend Flüchtlinge – ungeachtet der EU-Milliarden für die Türkei.

Marius springt aus dem schwarzen Schnellboot und lässt sich erschöpft auf den Strand von Skala sinken. Wütend schleudert er einen Stein hinaus aufs Meer. "Wie lange sollen wir das hier noch machen? Wann stoppt endlich einer diesen Wahnsinn?"

Der 24-jährige Grieche ist frustriert. Seit zwei Monaten ist er jetzt auf Lesbos, Griechenland, seit zwei Monaten macht er nichts anderes als mit seiner vierköpfigen Crew in einem Schnellboot durch die ägäische See zu preschen, Menschen aus dem Wasser aufzusammeln und völlig überfüllte Gummiboote voller verängstigter Menschen an den Strand zu lotsen. Freiwillig, unbezahlt. Dem griechischen Staat fehlen die Ressourcen.

Trotz Wintereinbruchs und Minusgraden kommen auf der Insel täglich im Schnitt tausend Menschen an. Allein im vergangenen Jahr waren es eine halbe Million Flüchtlinge, die auf Lesbos zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Laut UNHCR kamen in Griechenland 2015 insgesamt 850.000 Menschen an. Lebend. Denn immer wieder kommt es bei der riskanten Überfahrt in schrottreifen Booten zu Tragödien und tödlichen Unfällen.

Dabei sind es nur wenige Kilometer, für die die Menschen ihr Leben riskieren. Die türkische Küste ist von Skala keine 10 Kilometer entfernt. Keine zwei Stunden. 20 Euro kostet die offiziell Überfahrt mit der türkischen Fähre – für all jene, die einen europäischen Pass haben. Die fliehenden Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan zahlen das 50-fache.

"Wir haben für die Fahrt 1000 Euro gezahlt", erzählt der Syrer Muhammed al-Dali. Gerade ist er aus dem Wasser gewatet, unter dem einen Arm seinen vierjährigen Sohn, unter dem anderen die vollbepackte Reisetasche. "Wieso gibt es für uns keine Möglichkeit, auf legalem Weg zu kommen, macht mit dem Geld was ihr wollt, aber lasst uns Menschen sein!", fordert er.

"Festung Europa"

Es sind Forderungen, die in der kalten Winterluft auf Lesbos verhallen. Denn anstatt legale Einreisezentren in den Auffanglagern in der Türkei, im Libanon oder Jordanien zu errichten, versuchen die EU-Politiker an der "Festung Europa" zu bauen, wie Österreichs Innenministerin Mikl-Leitner im Oktober gefordert hatte.

In den vergangenen Wochen wurde die Kritik an Griechenland immer schärfer. Der deutsche Finanzminister Schäuble schimpfte in einem Interview, dass Griechenland seit Jahren die Dublin Regelung missachte; der Vorsitzende der Konservativen im EU-Parlament, Manfred Weber, sprach vom "temporärem Ausscheiden aus dem Schengen-Raum", sollte es Griechenland auch mithilfe von Frontex nicht gelingen, den Flüchtlingszustrom zu begrenzen.

Im Dezember wurde von der EU-Kommission daher der Antrag gestellt, dass die europäische Grenzschutzagentur Frontex künftig im Notfall auch ohne Zustimmung einzelner Staaten eingesetzt werden kann. Was im Falle Griechenlands, das mit der Bewältigung zweier Krisen komplett überfordert ist, aber nicht einmal nötig wäre: "Griechenland hat 1600 Grenzschutzbeamte bei Frontex angefragt, nur 170 sind bisher im Einsatz", heißt es im offiziellen Statement der Regierung aus Athen.

Dabei wird aber auch Frontex die Flüchtlinge nicht abhalten können. Das im Völkerrecht verankerte Nichtzurückweisungsprinzip (Non-Refoulment-Gebot) verhindert das. "Unsere Aufgabe besteht darin, die Leute zu identifizieren, sie zu registrieren und wenn nötig zu veranlassen, dass sie in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden", sagte Frontex-Sprecherin Izabella Cooper dem KURIER. "Aber auch eine Verstärkung des Grenzschutzes ist keine dauerhafte Lösung", gibt sie dabei zu bedenken. "Dafür müssen wir eine realisierbare, globale Lösung finden. Solange es die Nachfrage gibt, werden Schlepper ihre Wege finden."

Zu einer globalen Lösung beitragen, werden Obergrenzen – wie die am Mittwoch von der Regierung in Wien beschlossene – nicht. "Europa ist keine Union mehr. Was die einzelnen Länder machen, grenzt an Kollaboration", kritisierte die Sprecherin des Ministeriums für Immigration in Athen, Maria Delithanassi, gegenüber dem KURIER. Die Regierung in Athen befürchtet einen Dominoeffekt, wie er mit der vorübergehenden Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze am Mittwoch bereits eingetreten ist. "Wir werden unser Bestes geben, um mit der Aufgabe fertigzuwerden. Wir können jetzt nicht einfach die Menschen im Meer ertrinken lassen", sagte Delithanassi weiter.

Das wissen auch die Abgeordneten in Brüssel und haben deshalb, um die Zahl der Flüchtenden zumindest vorläufig zu begrenzen, entschieden etwa drei Milliarden Euro an die Regierung in Istanbul zu zahlen, damit diese die Flüchtlinge in der Türkei behält. Ob die Zahl der Ankommenden seit November deswegen gesunken sind, oder einfach wegen des Wintereinbruchs, ist umstritten.

Marius grinst verbittert, als er das hört. "Wir geben denen Geld, damit sie uns die Menschen vom Leib halten – die Methoden sind dabei egal." Täglich beobachten die Freiwilligen von Booten im Meer und vom Land aus den abstrusen Horror, der sich auf der türkischen Seite des Meeres in steter Regelmäßigkeit abspielt: Boote der türkischen Küstenwache, die um die wackeligen Gummiboote der Flüchtlinge kreisen, immer engere Kreise ziehen, bis die Boote kentern oder im Wasser versinken. Wer aus dem Wasser gefischt wird und überlebt, versucht es später einfach wieder.

"Wir machen das nicht zum Spaß. In Syrien sterben Tausend jeden Tag, in der Türkei behandeln sie uns wie Tiere – beendet das Grauen oder die Menschen kommen weiter", sagt Muhammad Al-Dali, der Syrer mit seinem Sohn und der Reisetasche unter den Armen.

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