Gipfel als "Gruppentherapie" für die EU-Granden
Monatelang dauerte der erbitterte Streit über eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik. Vier osteuropäische Staaten – Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei – wollten von einer fairen Aufteilung der Migranten nichts wissen und blockierten eine enge Zusammenarbeit, wo sie nur konnten: Die slowakische Regierung verklagte die EU-Kommission wegen der Quote, Ungarn befragt Anfang Oktober das Volk. Prognosen gehen von einer breiten Ablehnung für die Aufnahme von Asylwerbern aus.
Nun zeichnete sich plötzlich beim Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in Bratislava am Freitag eine kleine Wende ab. Die Visegrád-Staaten sind zu einer "flexiblen Solidarität" bereit, vorausgesetzt man lässt sie selbst entscheiden, welchen Beitrag sie zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik leisten wollen. Immerhin, rhetorisch wurde in Bratislava abgerüstet, der Streit kalmiert.
"Flexible Solidarität"
Was diese "flexible Solidarität" allerdings konkret bedeutet, wird sich wohl erst in den nächsten Monaten zeigen, wenn die EU etliche wirtschaftliche, soziale und sicherheitspolitische Maßnahmen und Projekte beschließen muss, um die "existenziellen Krise", wie es die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ausdrückte, zu lösen.
Entgegenkommen gibt es vonseiten der EU-Blockierer aus Osteuropa bei der EU-Verteidigungspolitik. Sie unterstützen die Errichtung eines EU-Hauptquartiers für militärische und zivile Einsätze und einen Fonds für die Anschaffung von Rüstungsgütern. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kündigte gestern an, dass all diese Vorhaben bis Juni 2017 realisiert werden sollen. Selbst die sogenannten Battlegroups, die noch nie eingesetzt wurden, sollen für Missionen aktiviert werden.
Um die tiefen Gräben in der EU, die sich nach dem Brexit-Referendum im Juni vertieft haben, zu überwinden, schlug Juncker in Bratislava einen 14-Punkte-Plan vor, der bis Mitte 2017 umgesetzt werden soll. Ein Bereich ist die erwähnte Vertiefung der EU-Verteidigungspolitik. Kommen soll endlich auch ein gemeinsamer EU-Außengrenzschutz. Am Plan steht auch ein Unterstützungsfonds für Afrika in Höhe von acht Milliarden Euro, um Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten.
Bis Frühjahr werden die Mittel für den Juncker-Investitionsfonds auf 630 Milliarden Euro verdoppelt, um Infrastrukturprojekte zu finanzieren und Jobs zu schaffen.
Was die EU-Granden bei ihrem Mittagessen auf einem eleganten Donauschiff besprachen, bleibt geheim. Dem Vernehmen nach haben Merkel und Frankreichs Staatspräsident François Hollande sehr lange vertraulich miteinander gesprochen, Juncker mit dem slowakischen Gastgeber, Premier Robert Fico. Langjährige EU-Beobachter sind sich einig: "Der Gipfel war eine Gruppentherapie."
Während in Bratislava über Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU diskutiert wurde, forderte die Welthungerhilfe in Berlin am Freitag ihrerseits weltweit "Kontingente" zur Verteilung. Das sagte die Präsidentin der deutschen NGO mit Blick auf den hochrangigen UN-Flüchtlingsgipfel am Montag in New York. Staaten sollten sich verpflichten, eine bestimmte Anzahl geflüchteter Menschen aufzunehmen.
In New York beraten am Montag die Staats- und Regierungschefs über Flucht und Migration. Für Österreich werden Bundeskanzler Christian Kern und Außenminister Sebastian Kurz teilnehmen. Wenige Tage später lädt der Kanzler zum Flüchtlingsgipfel am 24. September in Wien, bei dem das weitere Vorgehen und die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage diskutiert werden soll.
Gefährlichere Routen
Das britische "Overseas Development Institute" veröffentlichte am Freitag eine Studie, derzufolge Zäune und Grenzkontrollen gegen Flüchtlinge nur wenig nutzen, da diese dann auf verdeckte bzw. gefährlichere Routen ausweichen würden. Während im vergangenen Jahr 1,7 Millionen Asylanträge in Europa gestellt wurden, seien nur 1,1 Millionen Ankünfte registriert worden. Heuer werden insgesamt 890.000 Asylanträge geschätzt, bei 330.000 Einreisen.
Für Zäune und "Grenzmanagement" sowie Grenzkontrollen und -überwachung habe Europa mehr als 17 Milliarden Euro ausgegeben. Das Institut empfiehlt der EU, weniger Geld für Grenzsicherung und bauliche Maßnahmen auszugeben, und stattdessen mehr legale Wege zur Einreise zu schaffen.
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