Geschichten mit Geschichte: Mythos Downing Street

Geschichten mit Geschichte: Mythos Downing Street
Hinter der berühmtesten Tür der Welt. Wo Englands Premierminister seit bald 300 Jahren residieren

Im Endspurt zum Brexit möchte man ein kleines Mäuschen sein, um mithören zu können, was hinter der schwarzen Tür des Hauses Downing Street Nummer 10 verhandelt wird. Fast täglich stellt sich Theresa May vor den dunklen Backsteinbau und erklärt der versammelten Presse, worauf man sich (wieder nicht) geeinigt hat. Staats- und Regierungschefs aus aller Welt gingen hier ein und aus, und Winston Churchill, Margaret Thatcher und Tony Blair zählten zu den legendären Bewohnern.

Sir George Downing

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Hauskater Larry

Also, das mit der Maus überlege ich mir noch, da es die Hauptaufgabe des auf Nummer 10 wohnhaften Katers Larry ist, am Sitz der britischen Premierministerin auf Mäusejagd zu gehen. Das Mäuseproblem gab es vermutlich schon, als der Diplomat Sir George Downing im 17. Jahrhundert die nach ihm benannte Straße anlegen ließ, nachdem ihm König Charles II. den in Parlamentsnähe gelegenen Prachtgrund für seine Verdienste um das Königreich geschenkt hatte.

Wurden die Häuser der Downing Street anfangs von Privaten bewohnt, so baute man sie im 18. Jahrhundert zum Zentrum des Regierungsviertels um. Auf Nr. 10 arbeitet seit 1735 der Premier, seit 1902 ist es auch sein Wohnsitz.

Britisches Understatement

Geschichten mit Geschichte: Mythos Downing Street

Das auf den ersten Blick wenig prunkvoll wirkende grauschwarze Gebäude mit dem schwarzem Eingangstor entspricht ganz dem britischen Understatement. Wenn die Premierministerin ihren Amtssitz verlässt, sieht man als TV-Konsument ein zwar elegantes, aber eher kleines Haus. Doch hinter der bescheidenen Fassade verbirgt sich ein palastartiges Anwesen. Downing Street 10 besteht nämlich, nachdem die Nummern 9, 11 und 12 dazugekauft wurden, aus vier Häusern, und hinter dem großen Garten befindet sich ein weiterer Anbau – sie alle sind durch Mauerdurchbrüche miteinander verbunden.

Lange wurde „Number 10“ von zwei einfachen „Bobbys“ bewacht, doch seit dem 7. Februar 1991 ist alles anders. An diesem Tag feuerten IRA-Attentäter aus einem weißen Kleinbus von der nahen Whitehall drei Granaten gegen den Regierungssitz, eine zündete und richtete großen Schaden an, doch Premierminister John Major (1990–1997) und die anderen im Haus befindlichen Personen blieben unverletzt.

Die Sicherheitsmaßnahmen wurden bereits unter Majors Vorgängerin Margaret Thatcher (1979–1990) verschärft. 1986 wurden hohe, schwarze Stahlgitter errichtet, sodass Touristen und Schaulustige nicht mehr in die Downing Street vordringen können. Heute gleicht die Straße einem Hochsicherheitstrakt, Kameras sind rund um die Uhr auf das Gebäude und seine Umgebung gerichtet, nur akkreditierte Besucher dürfen sich der berühmten Tür nähern.

Die kleine, dunkle Gasse in der City of London war immer schon ein Sicherheitsrisiko. 1842 plante ein Mann, den Premierminister Robert Peel (1841–1846) zu erschießen. Er verwechselte ihn mit dessen Sekretär Edward Drummond, der gerade auf dem Weg zu Nr. 10 war, und tötete ihn.

Nach dem Attentat auf Nr. 10

Nach dem IRA-Attentat des Jahres 1991 wurde die schwarze Holztür mit der signifikanten Nr. 10 durch ein Stahl-Sicherheitstor ersetzt, doch das Portal ist mehr Kulisse als Tür: Auf einem Messingschild steht nicht der Name des jeweiligen Bewohners, sondern der Titel „First Lord of the Treasury“ (Schatzmeister), das ist die britische Premierministerin nämlich auch. Der Briefschlitz an der Tür ist ebenso eine Attrappe wie die Klingel. Und es gibt weder Türschnalle noch Schlüsselloch. Die Tür hinter der Theresa May wohnt, kann nur von innen geöffnet werden.

Nur Staatsgäste wissen, wie die Innenräume von Downing Street 10 aussehen. Einer von ihnen ist Sebastian Kurz, der bereits zweimal bei Theresa May zu Gast war. „Das Haus Downing Street 10 ist gediegen und klassisch eingerichtet, aber ohne aufdringlichen Pomp“, berichtet der Bundeskanzler dem KURIER. „Das Stiegenhaus mit den Porträts aller ehemaligen Premierminister ist zweifellos das Herzstück der Downing Street. Das spiegelt auch die politische Tradition von Großbritannien gut wider.“

Winston Churchill, der hier von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 residierte, schreibt in seinen Memoiren, dass die Downing Street „der Profitgier des 17. Jahrhunderts entsprechend liederlich gebaut“ wurde. Das und Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg waren die Gründe, dass in den 1950er-Jahren ernsthaft erwogen wurde, die Häuser 10, 11 und 12 abzureißen und durch moderne Bauten zu ersetzen. Das konnte glücklicherweise verhindert werden, stattdessen wurden die Häuser so grundlegend renoviert, dass sie Neubauten gleich kommen, ohne die Architektur und den Mythos zu zerstören.

Tony Blair übersiedelt

Tony Blair war der bisher einzige Premier (1997–2007), der auf 11 statt auf Nr. 10 wohnte. Der Grund: Dem vierfachen Vater wurde der Regierungssitz zu klein, und das Nachbarhaus ist deutlich größer (es dient im Normalfall dem „Zweiten Schatzmeister“).

Hinter der schwarzen Tür Nr. 10, die zur Residenz des Premierministers führt, wird seit fast 300 Jahren Geschichte geschrieben. Hier wurde das British Empire errichtet und wieder begraben, hier fielen Entscheidungen, die zwei Weltkriege betrafen, hier wurden Regierungskrisen abgewickelt. Und jetzt geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den Brexit.

Die Downing Street hat schon schlimmere Zeiten gesehen. Aber auch schon bessere.georg.markus

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