"Ich habe Angst, Mann"
Der Polizist Thomas Lane war gemeinsam mit seinem Partner am 25. Mai 2020 zum Lebensmittelgeschäft "Cup Foods" gerufen worden, weil dessen Besitzer einen offenbar gefälschten Geldschein gemeldet hatte. George Floyd, der mit diesem Schein bezahlt haben soll, befand sich zu diesem Zeitpunkt vor dem Geschäft mit seiner Ex-Freundin sowie einer Bekannten in seinem Auto.
Lane klopfte zuerst mit seiner Taschenlampe gegen das Fenster des Wagens, dann richtete er sofort seine Waffe auf Floyd. "Lassen Sie mich Ihre Hände sehen", so der erste Satz des Polizisten. Floyd wurde panisch, kooperierte nicht gleich, fragte nach dem Grund des Einsatzes. Dann erklärt er: "Ich wurde letztes Mal genau auf dieselbe Art schon einmal angeschossen, Mr. Officer, es war die gleiche Situation."
Die beiden Polizisten holten Floyd aus dem Wagen, legten ihm Handschellen an. "Warum ist er so nervös und zeigt uns seine Hände nicht gleich?", fragte Lane Floyds Ex-Freundin. Sie antwortet: "Keine Ahnung, Sir, weil er schon einmal angeschossen wurde. Er hat immer Probleme, wenn die Polizei kommt, vor allem wenn man so die Waffe auf ihn richtet." Dann wendet sich Lane wieder Floyd zu: "Haben Sie etwas genommen? Sie benehmen sich etwas erratisch." Floyd antwortet: "Ich habe Angst, Mann."
Floyd war kein unbeschriebenes Blatt
George Floyd war weder der erste noch der letzte Afroamerikaner, der infolge überzogener Polizeigewalt starb. Schwarze sind in den USA nach wie vor deutlich öfter von Polizeigewalt betroffen als der Rest der Bevölkerung. 2022 wurden insgesamt 1.055 Menschen von der US-Polizei erschossen, so viele wie noch nie zuvor.
Davon waren 27 Prozent Afroamerikaner; obwohl diese nur knapp 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In 14 Fällen konnte nachgewiesen werden, dass die Opfer unbewaffnet waren - sie alle waren Afroamerikaner. Das ist das besondere am Fall George Floyd: Für viele Afroamerikaner dokumentiert er beispielhaft, wie schnell der Kontakt mit der Polizei für Schwarze in den USA tödlich enden kann.
George Floyd war kein unbeschriebenes Blatt. Er war in einfachen Verhältnissen in einem Sozialbau in Houston, Texas, aufgewachsen, in dem fast ausschließlich Afroamerikaner lebten. In seiner Jugend schaffte er es als begeisterter Sportler noch über ein Basketball-Stipendium auf ein College, brach sein Studium aber rasch ab - und rutschte schon bald in die Kleinkriminalität ab.
In den frühen 2000er-Jahren wurde Floyd wegen Drogendelikten, Diebstählen sowie wegen Hausfriedensbruchs und Raubes zu mehreren kurzen Haftstrafen verurteilt. 2009 landete er wegen bewaffneten Raubes für fünf Jahre im Gefängnis. Über ein Wiedereingliederungsprogramm für ehemalige Häftlinge kam er anschließend 2014 nach Minneapolis.
Verzweiflung unter Drogeneinfluss
Sechs Jahre später gab Floyd dort auf erneute Nachfrage der beiden Polizisten an, kurz vor deren Auftauchen Crystal Meth geraucht zu haben. "Ich habe gerade meine Mutter verloren", so Floyd, der von da an zu betteln anfing. "Bitte erschießen Sie mich nicht, Mr. Officer. Können Sie mich bitte nicht erschießen, Mann?" Lanes Partner antwortete: "Dann hören Sie auf, sich zu widersetzen."
Als ein weiterer Streifenwagen eintraf, übernahm der dienstälteste Beamte, der 44-jährige Derek Chauvin, das Kommando. Für Floyd sollte dieser Moment fatal werden. Chauvin war unter Polizisten in Minneapolis als Rassist verschrien, gegen ihn waren bereits interne 22 Beschwerden von Kollegen erhoben worden.
Als erste Anweisung entschied Chauvin, Floyd in Handschellen sowie in den Rücksitz des Polizeiwagens zu legen. Floyd wollte das um jeden Preis verhindern, und rief: "Ich habe Platzangst, ich hatte gerade erst Covid. Bitte lassen Sie mich nicht alleine da drin." Laut Angaben der Beamten soll er sich zu von da an auf den Boden fallen haben lassen und um sich getreten haben.
Die nächsten zehn Minuten, und das ist das, was den Fall Floyd so besonders macht, sind auf Videoaufnahmen erschrockener Passanten genauestens dokumentiert. Sie zeigen die Unbekümmertheit, mit der die vier Polizisten Floyd auf dem Boden fixieren und sein Flehen ("Bitte, bitte, bitte - Sie töten mich") ebenso ignorierten wie die Zurufe der Menge ("Er atmet nicht mehr, er hat keinen Puls mehr"). Chauvin überging sogar die Bemerkung seines Kollegen Lane ("Vielleicht sollten wir ihn auf die Seite legen") mit den Worten: "Kümmern Sie sich um die Menge."
Der Anstoß für "Black Lives Matter"
Die Videoaufnahmen lösten weltweit Bestürzung aus, sie waren für viele Schwarze der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Unter dem Motto "Black Lives Matter" brachen in den USA Proteste aus, aber auch in Städten wie London, Paris, Rio de Janeiro oder Wien gingen Tausende aus Solidarität auf die Straße.
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Nirgendwo jedoch eskalierte die Situation so sehr wie in den USA, wo es teilweise zu Plünderungen und schweren Straßenkämpfen kam. Amnesty International dokumentierte in dieser Zeit "vielfache und schwere Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei", die in mehr als 40 Städten Ausgangssperren ausgesprochen hatte. Den Gipfel der Gewalt bildete wohl der Amoklauf des erst 17-jährigen Kyle Rittenhouse, der bei Protesten in der Stadt Kenosha zwei schwarze Demonstranten mit einem Gewehr erschoss - und anschließend freigesprochen wurde.
Die vier Beamten jedoch, die sich für Floyds Tod verantwortlich zeigten, erhielten alle mehrjährige Haftstrafen. In zweiter Instanz entschied ein Bundesgericht letzten Sommer, dass Derek Chauvin für mehr als 22 Jahre ins Gefängnis muss.
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Doch auch, wenn die Aufmerksamkeit für Polizeigewalt gegenüber Schwarzen weltweit erhöht wurde, ist kein Ende der Fälle in Sicht. Zuletzt gelangte der Fall des 29-jährigen Tyre Nichols in die Medien, der bei einer Polizeikontrolle getötet wurde.
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