"Ein Ausschluss der Wahlsieger ist auch keine Lösung"
Die Schweizer Philosophin Katja Gentinetta über Trumps Wahlsieg, „einen Backlash bei der Globalisierung“, „Brandmauern“ gegen rechts und die Notwendigkeit einer „Rückbesinnung auf unsere Werte“.
KURIER: Sie haben wie viele europäische Beobachter vor einer Wiederwahl von Donald Trump gewarnt. Nun ist es doch so gekommen. Was ist Ihre Erklärung?
Katja Gentinetta: Er ist sicher einer dieser Politiker, die es schaffen, die Leute dort abzuholen, wo sie sich abgeholt fühlen. Er verspricht Dinge, von denen ich nicht sicher bin, dass er sie einhalten kann. „This country needs healing“ ist einer dieser Sätze, bei denen ich mich frage, was er wirklich damit meint und vorhat. Mehr Sicherheit, mehr Stabilität, mehr Einkommen, mehr Sozialstaat? Es fällt mir schwer, auf so viel Gemeinwohl zu vertrauen. Dass er gewonnen hat, liegt erstens daran, dass Kamala Harris schlicht zu wenig Zeit hatte und zweitens, die Demokraten zu sehr – nicht zu Unrecht – mit der woken Ideologie in Verbindung gebracht werden. Auch das ist ein Aspekt dieser Wahl: ein Stoppzeichen in Richtung Wokeismus.
Ex-Kanzler Sebastian Kurz hat Trumps Wahlsieg als Zeichen dafür interpretiert, dass die Leute einen „klaren Kurs gegen illegale Migration und den Woke-Wahnsinn“ wollen, „aber auch eine Wirtschaftspolitik, die verstärkt auf Wachstum und Wohlstand setzt“. Hat er recht?
Mit der Migration und dem Wokeismus bin ich einverstanden. Was Wachstum und Wohlstand betrifft, wird Trump auf Protektionismus setzen. Er verspricht, die eigene Wirtschaft zu stärken auf Kosten der Importe und der globalen Arbeitsteilung – was sich die USA mit ihrem großen Binnenmarkt natürlich besser leisten können als kleinere Länder.
Der deutsche Kabarettist Vince Ebert spricht vom „Abstieg“ des „woken, linksgrünen Lagers mit seiner weltrettenden, in Teilen sogar antiwissenschaftlichen Klima-, Migrations-, Geschlechter- und Wirtschaftspolitik“ …
Ich würde auch hier teils zustimmen – aber natürlich haben wir ein Umweltproblem. Aber „antiwissenschaftlich“ sind sowohl das radikallinke als auch das Trump-Lager – man erinnere sich an Corona! Im Grunde versuchen beide, die Wissenschaft für sich zu instrumentalisieren. Diese aber liefert immer nur vorläufige Befunde, was es der Politik auch nicht einfacher macht. Da bleibt der Politik letztlich nur die gute Mitte – im Sinne der Kunst des Möglichen.
Zeigt sich hier nicht auch ein Versagen der demokratischen Mitte, die viele Themen dem rechten Rand überlassen hat?
Bei der Migration kann man das so sagen. Die Rechte hat sämtliche Ausländer kriminalisiert, die Linke hat sämtliche Probleme verharmlost, und die Mitte hat dazu nobel geschwiegen.
Fügt sich Trumps Wahlsieg ein in eine größere Entwicklung – weg von Globalisierung und den großen liberalen Fortschritts- und Wohlstandsversprechen?
Wir erleben seit einigen Jahren einen Backlash bei der Globalisierung. Das Gefühl, ihr schutz- und machtlos ausgeliefert zu sein, wurde zunächst auf die Straße getragen und später in die Wahlurnen. Die Landesgrenze ist gleichsam die letzte Hürde, weshalb populistische Politik genau hier anzusetzen verspricht. Die Verheißungen der Freiheit und Offenheit in den Jahrzehnten nach dem Mauerfall sind in den Ruf nach Sicherheit und Abschottung umgeschlagen.
Auch in Europa sind die sogenannten rechtspopulistischen Parteien auf Erfolgskurs. Eine Gefahr für die EU – oder vielleicht auch ein Weckruf und eine Chance zur Besinnung auf Essentielles?
Die größte Gefahr sehe ich im scheinheiligen Begriff des „Friedens“, der bedeutet, dass das Völkerrecht nicht mehr gilt – zugunsten des Aggressors. Es ist eine Politik, die direkt auf die Spaltung Europas hinarbeitet. Vielleicht aber bewirkt diese Radikalisierung auch eine Rückbesinnung auf unsere Werte – Freiheit, Recht, Leistung. Die Relativierung, die diesbezüglich gerade im Zuge der woken Ideologie stattgefunden hat, ist problematisch. Eine eher konservative Politik, die hier ansetzt, wäre wichtig.
Nun haben ja manche der rechten Parteien ihre Wurzeln in der Christdemokratie – die AfD etwa oder Orbáns Fidesz. Was folgt darauf für die traditionellen christdemokratischen Parteien, was sollten die daraus für Schlüsse ziehen?
Die traditionellen Parteien haben eine Moral hochgehalten: dass man hilfsbedürftige Menschen unterstützt. Sie gingen aber zu lange davon aus, dass alle automatisch an Frieden und Stabilität interessiert sind. Dabei hat man vergessen, unsere Normen hochzuhalten und durchzusetzen. Hier meine ich: gegenüber militanten, fundamentalistischen Einwanderern, die letztlich eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen. Dass sich die Bevölkerung, die sich auf demokratischem Wege zu Wort melden kann, dies früher oder später tun würde, hatte ich erwartet. Man kann Toleranz verlangen, aber nur, wenn man auch klar macht, wo ihre Grenzen liegen.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund „Brandmauern“ gegen rechts? Sind sie sinnvoll – und können sie halten?
In der Schweiz haben wir mit der SVP eine rechtskonservative Partei, die sich über die letzten 30 Jahre zur wählerstärksten Partei entwickelt hat. Sie wurde sukzessive in unser Konkordanzsystem und damit in die Regierung eingebunden. Dies hat sie gleichsam „zivilisiert“. Wenn wir sehen, wie schwierig eine Regierungsbildung in Österreich oder in Frankreich sich gestaltet, stellt sich schon die Frage nach der richtigen Strategie. Es ist Vorsicht geboten, aber ein Ausschluss der zahlenmäßigen Wahlsieger ist auch keine Lösung.
Würden Sie demnach das Schweizer Modell auch anderen Ländern empfehlen?
Das hielte ich für überheblich. Die Schweizer ließen sich auch nicht von außen ihre direkte Demokratie ausreden. Jedes System hat seine eigene Geschichte – und ganz ohne diese tradierte politische Kultur wird man kaum erfolgreich agieren können.
Aber wäre mehr direkte Demokratie ein Weg? Würde das den Populismus einhegen – oder, im Gegenteil, erst recht befördern?
In der Schweiz hat der viermal jährlich stattfindende Gang zur Urne eine sehr lange Tradition. Wir stimmen über das ab, was ansteht. Finden Referenden nur sehr selten statt, ist die Gefahr groß, dass man darin sämtlichen Frust ablädt und „ein Zeichen setzt“. Wer eine Demokratie direkter gestalten will, muss sukzessive und behutsam vorgehen. Dennoch wird die Demokratie überall – auch in der Schweiz – durch die Mobilisierungsmöglichkeiten der sozialen Medien massiv herausgefordert.
Bedeuten diese sozialen Medien ein Mehr an Freiheit – oder eine Gefahr für die Demokratie?
Derzeit stehen die Zeichen eher auf Gefahr, da Falschinformationen, Radikalisierung und Polarisierung ganz klar im Vordergrund stehen. Unsere demokratischen Institutionen sind dieser Herausforderung noch nicht gewachsen.
Handelt es sich dabei aber nicht auch um eine Demokratisierung des Diskurses, die sich gerade die Linke immer gewünscht hat?
Das war die große Hoffnung. Und das findet auch statt, allerdings mit zwei Problemen. Zum einen lässt die Anonymisierung allen Unflätigkeiten freien Lauf; die Korrektive funktionieren noch ungenügend. Zum andern sehen sich alle dazu berufen, zu allem und jedem eine qualifizierte Meinung zu haben. Alexis de Tocqueville prangerte bereits 1835 das Gleichheitsdogma an, das sich nie erreichen ließe, da jede noch so kleine Differenz als Ungeheuerlichkeit empfunden würde. Wir brauchen wieder Instanzen, die zwischen Meinung und Wissen unterscheiden.
Wer sollte das sein?
Letztlich muss sich der demokratische Diskurs selbst regulieren. Das war bisher bei jedem Innovationsschub der Kommunikations- und Medienwelt der Fall. Bei den sozialen Medien sind wir noch nicht so weit.
Angesichts des Ukrainekriegs haben Sie für mehr gemeinsames Europa plädiert. Wie weit soll das gehen? Vereinigte Staaten von Europa – oder nur mehr gemeinsame Anstrengungen im militärischen Bereich?
Europa hat eine lange Tradition der Vielheit, die sich nicht einfach so überwinden lässt. Europa hat aber auch eine lange Tradition der Freiheit, und diese muss es heute verteidigen. Als EU, aber auch zusammen mit der NATO. Vereinigte Staaten sind Zukunftsmusik. Erst einmal geht es darum, sich verteidigen und glaubhaft abschrecken zu können.
Wie realistisch ist das angesichts der unterschiedlichen nationalen Befindlichkeiten innerhalb der EU?
Die Anstrengungen sind spürbar. Es ist unumgänglich, Entschlossenheit zu signalisieren. Und bei allen Differenzen ist es doch erstaunlich, was sich bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik seit 2016 tut.
Die Schweiz ist weder bei der EU noch bei der NATO: Bedauern Sie das?
Ja, das bedauere ich. Wir sind das einzige Land ohne wechselseitige Beistandspflicht – was auch mit der Geschichte zu tun hat. Dennoch entspricht unsere gegenwärtige Neutralitätspolitik nicht den Anforderungen der Zeit – man denke an unser Wiederausfuhrverbot von Waffen. Zwar arbeitet das Parlament seit zwei Jahren an einer Änderung des Gesetzes, aber bisher ohne Erfolg. Ich bin eine Schweizerin, und ich bin eine Europäerin, und ich bekenne mich zu diesem Kontinent. Mir fällt es schwer, hier nicht die ganze Solidarität zu leisten.
Katja Gentinetta
geb. 1968 im Schweizer Kanton Wallis; studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Zürich und Paris; 2006–2011 stv. Direktorin des liberalen Thinktanks „Avenir Suisse“ (vergleichbar der österr. Agenda Austria); auf ihrer Website bezeichnet sie sich als „Politische Philosophin“, Lehraufträge an den Universitäten von Luzern, Zürich und St. Gallen; Kolumnistin des österr. Magazins „Der Pragmaticus“
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