"Freedom Day": Deutsche Debatte über Ende der Corona-Maßnahmen
Vor drei Monaten feierte England seinen "Freedom Day": angesichts der damals optimistisch stimmenden Impfquote wurden im größten britischen Landesteil fast alle Corona-Maßnahmen aufgehoben, auch wenn Experten vor den Folgen warnten. Maskenpflicht und Abstandsregeln fielen, Sportstadien und Diskos füllten sich.
Ähnliche Freiheiten wünscht sich der deutsche Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn auch für sein Land. Der CDU-Politiker mit Ambitionen auf den Parteivorsitz fordert ein Ende des bundesweiten Corona-Ausnahmezustands. Ungeachtet der Tatsache, dass die Inzidenzen in Deutschland seit Tagen kontinuierlich steigen und in England bereits mit einem neuen Lockdown spekuliert wird.
Sonderrechte für Regierung
In Deutschland sei das Risiko für geimpfte Menschen und die Gefahr einer Überforderung des Gesundheitssystems nur mehr "moderat", begründete Spahn seinen Vorstoß, der am Montag bekannt wurde - wenige Tage vor Beginn der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP. Spahn berief sich dabei auf die jüngste Einschätzung des renommierten Robert-Koch-Instituts.
Der Corona-Ausnahmezustand, genauer gesagt die "epidemische Lage nationaler Tragweite", war im März 2020 vom Bundestag beschlossen und seither mehrmals verlängert worden. Sie erlaubt es der Bundesregierung, über die Länderkompetenzen hinweg bundesweite Verordnungen zum Gesundheitsschutz zu erlassen, ohne dass im Parlament noch einmal darüber abgestimmt werden muss. Eine weitere Verlängerung dieser Sonderrechte müsste Ende November beschlossen werden.
Was eine Aufhebung der "epidemischen Lage" bedeuten würde, ist derzeit noch nicht absehbar. Grundsätzlich würden Einschränkungen wie die Maskenpflicht nicht automatisch wegfallen, analysierte der öffentlich-rechtliche WDR am Dienstag.
Der entscheidende Unterschied sei, dass die Einschränkungen in Zukunft wieder vom Parlament beschlossen werden müssten – was umstrittene Maßnahmen erschweren könnte. Auch könnten die Bundesländer wohl weiter eigene Regeln festlegen. Spahn selbst plädiert dafür, dass Hygiene- und Abstandsregeln weiter befolgt werden, da man noch keine Entwarnung geben könne.
"Kontraproduktiv" vs. "Mehr Normalität"
Experten in Politik und Interessensvertretungen sind in der Frage gespalten. Karl Lauterbach von der SPD hofft, dass zentrale Maßnahmen auf jeden Fall weitergeführt werden. "Kein Bundesland wäre so verrückt, bei den derzeitigen Fallzahlen auf Zugangsbeschränkungen für geschlossene Räume zu verzichten oder die Maskenpflicht in Bus und Bahn zu begraben", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
"Die Infektionszahlen sind zu hoch und dürften weiter steigen, die Impfquote ist zu niedrig", warnte auch die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Christine Falk. Spahns Vorstoß könnte in der Bevölkerung als Entwarnung missverstanden werden: "Das wäre ein kontraproduktives Signal an alle, die noch mit der Impfung zögern."
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, nannte es „gefährlich, aus fragwürdigem politischen Kalkül die epidemische Lage zu beenden".
Der FDP-Gesundheitsexperte und Infektiologe Andrew Ullmann schloss sich dagegen Spahns Forderung an. Er sprach sich aber für Boosterimpfungen und regionale Hygienemaßnahmen in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen aus. Es gebe nach wie vor eine Pandemie, sagte er mit Blick auf die Entwicklung in Südamerika oder Rumänien.
Auch der Hauptgeschäftsführer der deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, äußerte keine Bedenken, die "epidemische Lage" auslaufen zu lassen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, schlug eine deutschlandweite Regelung für geimpfte und genesene Personen in bestimmten Bereichen vor, "um wieder mehr Normalität zuzulassen".
Zurückhaltender zeigte sich der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen. Entscheidender als emotionale Debatten über die Verlängerung der epidemischen Lage sei die konsequente Umsetzung einfacher und wirkungsvoller Schutzmaßnahmen, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Ergebnis offen
Bleibt die Frage, welche Entscheidung der neu gewählte Bundestag, der kommende Woche das erste Mal zusammenkommt, tatsächlich Ende November treffen wird. Da bis zur Abstimmung über die "epidemische Lage" vermutlich noch keine neue Regierung stehe, werde das Votum äußerst spannend, glaubt das Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Die SPD ist - wie ihr Gesundheitsexperte Lauterbach - eher auf der vorsichtigen Seite, Grüne und FDP haben bereits im Sommer ein Ende der "epidemischen Lage" befürwortet. Bisher hat sich aber niemand aus der ersten Reihe der drei Parteien, die demnächst über eine sogenannte Ampel-Koalition verhandeln wollen, zu Spahns Vorstoß geäußert.
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