Frankreichs Lehrer brechen Tabu um Schülergewalt
Danny Leder aus Paris
Es ist ein schockierender „Schülerstreich“ mit ungeahnten Folgewirkungen: in der Vorwoche hielt ein 15 jähriger Gymnasiast im Pariser Vorort Creteil eine Softair-Pistole (ein Replikat einer echten Schusswaffe, das aber – im Allgemeinen – keine lebensgefährlichen Verletzungen verursacht) einer Professorin an den Kopf. Er war viel zu spät zum Unterricht erschienen und wollte die Professorin zwingen, seine anfängliche Abwesenheit nicht im Klassenbuch zu vermerken. Während er mit der Pistole herumfuchtelte, schnauzte er die Professorin an und forderte sie wirsch auf, sich ihm zuzuwenden. Die Professorin reagierte mit extremer Gelassenheit, fast könnte man sagen: mit einer Art von Fatalismus, die erahnen ließ, das sie nicht zum ersten Mal in eine derartige Lage geraten war. Sie blieb sitzen und versuchte den Halbwüchsigen mit verhaltenem Zureden beizukommen.
Während dessen baute sich ein weiterer Schüler hinter der Professorin auf und winkte in die Kamera eines Smartphones, von dem aus die Szene gefilmt wurde. Dazu erschallte Gelächter aus dem Klassenraum. Anderntags wurde das Video von dem filmenden Schüler, der sich offensichtlich eine Gaudi daraus machen wollte, im Internet verbreitet. Daraufhin kam es zu empörten Kettenreaktionen bis hin zu einer Stellungnahme von Staatschef Emmanuel Macron.
Aber inzwischen hat der Fall vor allem eine Flut von Reaktionen unter Lehrern ausgelöst, die ähnliches zu berichten haben. Unter dem Hashtag „#PasDeVague“ (wörtlich: „Keine Wellen“, sinngemäß: „Nur kein Aufsehen“) beschrieben zahllose Lehrerinnen und Lehrer auf Twitter, wie sie von Schülern bespuckt, bedroht und manchmal auch tätlich angegriffen wurden, dabei aber kaum Rückhalt von Seiten ihrer Vorgesetzten, also der Schuldirektoren oder Schulbehörden, erhalten hatten.
„Nehmen sie sich das nicht zu Herzen“
„Schüler haben mich angespuckt und mir gedroht, mich zu verprügeln“, schreibt ein Professor: „Ich habe Anzeige erstattet. Dazu mein Direktor: Sie sind zu repressiv und zu wenig erzieherisch“. Eine junge Berufsschul-Lehrerin schreibt, alle Schüler würden sich vor ihr in der Klasse die Hosentüre öffnen. Die Schulleitung verlangt von der betroffenen Lehrerin, „ihre Klasse besser zu betreuen“.
Eine andere junge Lehrerin wurde tätlich bedroht, ein Schüler versuchte sie im Stiegenhaus zu Sturz zu bringen. „Ich hatte Todes-Angst“, schrieb sie. Der Schulinspektor rät ihr: „Man muss sich abhärten. Es gibt schlimmeres“. Einer weitere Lehrerin, die angespuckt wurde, entgegnet ihr Direktor im Frageton: „Was haben sie diesem Jungen angetan, dass er so etwas macht?“. Wiederum einer anderen gemobbten und bedrohten Professorin wurde beschieden: „Diese Beleidigungen richten sich nicht gegen sie persönlich, sondern gegen die Institution. Sie nehmen sich das zu sehr zu Herzen."
All diese Berichte zeugen von der bitteren Einsicht vieler Lehrer, dass sie auf Seiten der Schulbehörden oft weder mit Verständnis noch mit Unterstützung rechnen können.
In gewissen Fällen liegt tatsächlich mangelnde Pädagogik und Einfühlungsvermögen seitens der Lehrer vor. Und einige Lehrer können, auch mangels entsprechender praxis-naher Vorbereitung, mit störenden Kindern aus schwierigsten familiären Verhältnissen nicht umgehen. Aber diese Fälle sind vergleichsweise selten.
Noten für Schuldirektoren
Ansonsten ist die mangelnde Unterstützung auch für vernünftig agierende Lehrer dem Umstand geschuldet, dass Schuldirektoren und in weiterer Hinsicht auch die Schulbezirks-Behörden, ihrerseits benotet und eingestuft werden. Und zwar jeweils danach, ob in ihren Schulen wenige oder viele „Probleme“ registriert werden. Worunter etwa Disziplinarverfahren oder der Ausschluss von Schülern verstanden wird. Daher der Name des Hashtags „#PasDeVague“ – weil eben etliche Lehrer, die auf eine Sanktion gegen ihre Peiniger unter den Schülern drangen, zu hören bekamen: „Machen wir doch keine Wellen, das schadet doch nur dem Ruf der Schule“.
Genau diese „Wellen“ branden jetzt, in Folge des Schocks über das vorwöchige Video im Web, umso heftiger den Schulbehörden und politischen Entscheidungsträger entgegen. Gegen den 15 Jährigen, der in Creteil seine Professorin mit der Pistole bedroht hatte, wurde ein Voranklage-Verfahren eingeleitet, das in ein Gerichtsverfahren für Minderjährige münden könnte. Er war von seinem Vater, der als streng gilt, ins Kommissariat zur Einvernahme geführt worden.
Vorerst wird er weiter eine Schule besuchen, allerdings darf er nicht mehr nach Creteil in sein ursprüngliches Gymnasium. Er musste einstweilen zu Verwandten in eine andere Gegend umziehen. Was ebenfalls Aufsehen erregte: die betroffene Schule in Creteil wurde von den Behörden nicht als Problemschule eines Brennpunkt-Viertels eingestuft, der Vorfall beeindruckte daher umso mehr.
Unterrichtsminister Jean-Michel Blanquer hat inzwischen die Vorbereitung verstärkter Maßnahmen im Bereich der Erziehung und Sanktionen gegen gefährliche Schüler und „demissionierender Eltern“ angekündigt: „Wir werden die Ordnung wieder herstellen“.
Fünf getötete Jugendliche in acht Monaten
Bei dieser Gelegenheit erklärte Blanquer, eine neue Koordinationsstelle mit der Polizei werde sich mit den immer brutaleren Fehden zwischen Jugendbanden in und um die Schulen beschäftigen. Seit 2016 wurden von der Polizei 250 schwere Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Gruppen von Jugendlichen und Halbwüchsigen im Pariser Großraum verzeichnet. Dabei starben fünf junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren in den letzten acht Monaten.
Dem halbwüchsigen Pistolen-Fuchtler von Creteil stellte Blanquer einen endgültigen Ausschluss aus seiner ursprünglichen Schule in Aussicht. Das allein schon wird von Lehrern als Erfolg aufgenommen – mussten doch Lehrerinnen und Lehrer, die von Schülern attackiert worden waren, bisher miterleben, wie ihre Angreifer, nach einer „Ehrmahnung“, wieder in die Klasse zurückkehrten und von ihren Mitschülern als Helden gefeiert wurden.
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