Frankreich ringt mit dem Islamismus
Der Islam wurde an jenem Abend eher zufällig zum Gesprächsthema. Ich war in einem Pariser Vorort bei Freunden eingeladen. Unter ihnen befand sich Miranda, die aus Chile eingewandert war und in einer Volksschule als Betreuerin arbeitet.
Sie erwähnte, dass die überwiegend aus muslimischen Familien stammenden Kinder sie wegen ihres dunklen Teints als Muslima betrachten. "Deswegen werfen sie mir vor, dass ich während des islamischen Fastenmonats Ramadan tagsüber essen gehe", erzählte Miranda. "Aber sogar wenn ich ihnen sage, ich bin Christin, hören die Vorwürfe nicht auf. Dass ich Schweinefleisch esse, dass ich in die Kirche gehe, alles gilt als Sünde. Die Eltern dieser Kinder scheinen ihnen keinen Respekt vor anderen Religionen beigebracht zu haben. Diese Eiferer werden von Jahr zu Jahr mehr und ziehen die anderen Kinder in ihren Bann. Das bedrückt mich."
Aber hat derartiges Kindergeschwätz überhaupt eine Bedeutung? Und gibt es zwischen solchen Mini-Belästigungen durch unreifen Nachwuchs und den Massenmorden der Dschihadisten, mit denen sich zurzeit das Gericht in Paris (siehe rechts) beschäftigt, einen Zusammenhang?
Moderate unter Druck
Immer mehr Politiker, allen voran der liberale Staatschef Emmanuel Macron, unterschiedlich gefärbte Bürgermeister, Pädagogen und Soziologen, beantworten diese Fragen inzwischen de facto mit Ja. Durch Indoktrinierung sei in ärmeren Vierteln ein radikal-islamischer Biotop entstanden. Die Anhänger einer besonnenen Glaubenspraxis würden zunehmend unter Druck geraten. In diesem Klima habe die Gewaltbereitschaft einer Minderheit gedeihen können.
Macron hat erst kürzlich den Begriff des "islamistischen Separatismus" geprägt – eine Überhöhung des Begriffs der "Parallel-Gesellschaft". Einer der Wegbereiter dieser Wortwahl war der Schulinspektor Jean-Pierre Obin. Der politisch links angesiedelte Beamte hatte 2004 in einem Rapport Alarm geschlagen: Unter Schülern sei die "Gleichstellung der Frauen im Rückgang", der "Antisemitismus auf dem Vormarsch" und der Dschihadisten-Terror akzeptabel. Sogar die Erörterung der Philosophen der Aufklärung wie Voltaire oder Jean-Jacques Rousseau würde zu Zwischenfällen führen.
Obins Bericht stieß unter Inspektoren-Kollegen zuerst auf heftige Ablehnung, er galt vielen als "islamophob" und wurde unter Verschluss gehalten. Er wurde trotzdem 2006 in einem Sammelband mit Beiträgen weiterer besorgter Intellektueller veröffentlicht. Einer der damaligen Mitautoren, der muslimische Reformer Ghaleb Bencheikh, erklärte kürzlich dem Magazin Le Point: "Ich würde Ihnen gerne sagen, dass sich die Situation seither geändert hat. Das ist aber nicht der Fall".
Auch Obin glaubt, dass sich die Lage nicht gebessert habe. In einem soeben erschienenen neuen Buch verweist er auf eine Umfrage unter Lehrern, wonach zwei von fünf mit religiös motivierten Problemen zu ringen hatten. Kinder, manchmal Eltern und sogar ein Imam würden sich nicht mehr damit begnügen, dass muslimische Schüler kein Fleisch in der Schulkantine serviert bekommen (weil die Tiere nicht islamisch geschlachtet wurden), sondern auch eigene, Muslimen vorbehaltene Speise-Tische sowie gesonderte Umkleideräume und Toiletten fordern.
Ungeklärt bleibt freilich die Häufigkeit derartig extremer Bestrebungen. Wobei auch Kinder und Eltern, die evangelikalen Neukirchen angehören, für Konflikte an Schulen sorgen können, wenn es etwa um Sexualkunde oder Naturgeschichte geht.
"Geiseln beider Seiten"
Zweifellos fühlen sich viele Muslime zu Unrecht an den Pranger gestellt, wie es der Vorsitzende des muslimischen Kultusrats, Mohammed Moussaoui, formuliert: "Wir werden von zwei Seiten als Geiseln benützt. Durch diejenigen, die uns ihre Verhaltensregeln aufzwingen wollen, und durch ein politisches Spiel, das unsere Spiritualität unter Dauerverdacht stellt." Unter den Jugendlichen aus arabischen und afrikanischen Familien, die erwiesenermaßen mit häufigen Diskriminierungen bei der Jobsuche zu kämpfen haben, wird diese Polemik als zusätzliche soziale Hürde wahrgenommen.
"Wie erstarrt"
Die franko-marokkanische Journalistin Zineb El Rhazoui, die für Charlie Hebdo schrieb, lässt solche Einwände nicht gelten: "Was hätte man gesagt, wenn man nach dem Zweiten Weltkrieg Nazi-Propaganda zugelassen hätte? Das ist genau, was wir mit dem Islamismus machen, obwohl es eine Ideologie ist, die Massenverbrechen begangen hat. Überall im öffentlichen Raum sieht man die Anzeichen für eine anschwellende islamistische Welle. Die Leute merken, dass sich etwas in sehr kurzer Zeit geändert hat, aber sie sind wie erstarrt."
Das Recht auf freie Meinungsäußerung und auch das Recht auf Blasphemie, das nicht in allen Ländern gilt, auch nicht in Österreich, nannte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, einen "nationalen Schatz", den es zu verteidigen gilt.
In Frankreich, dem säkularen Staat der Aufklärung, begann am Mittwoch der auf 49 Tage anberaumte Prozess gegen 14 Handlanger der drei islamistischen Terroristen, die am 7. Jänner 2015 Paris für immer veränderten.
Bei dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und bei der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt waren innerhalb von drei Tagen 17 Menschen gestorben. Darunter die bekannten Zeichner Stephane Charbonnier, genannt Charb und Jean Cabut, genannt Cabu. Eine junge Polizistin war unter den Opfern und sechs Geiseln im koscheren Supermarkt.
Die drei Haupttäter, die Brüder Cherif und Said Kouachi und Amedy Coulibaly, stehen nicht vor Gericht: Sie wurden von Spezialkräften auf der Flucht und bei der Erstürmung des Supermarkts "Hyper Chacher" erschossen. Der Prozess in Paris gilt als "historisch" und wird auf Video aufgezeichnet. Das Urteil soll am 10. November gefällt werden.
Die 14 Angeklagten wurden in den 1980er-Jahren geboren und sind in Pariser Vorstädten aufgewachsen. Drei von ihnen sind flüchtig. Es ist nicht bekannt, ob sie noch leben. Typische Kleinkriminelle, die sich radikalisiert haben. Den Brüder Kouachi, den Attentätern auf Charlie Hebdo, ist es gelungen, ihre Spuren zu Handlangern zu verwischen. Die Angeklagten müssen ihre Nähe zu Amedy Coulibali erklären, dem Attentäter des Supermarkts.
Die Feministin Caroline Fourest, die bis 2009 für Charlie Hebdo gearbeitet hat, findet, dass die Gesellschaft bitterlich versagt hat. Sie beschuldigt Teile der französischen Linken, Kritik am Islam nicht zuzulassen. Auch viele jüdische Überlebende fühlten sich im Stich gelassen, sagt Patrick Klugmann, einer der Anwälte der Geiseln des Supermarkts. Sie seien Opfer des Vergessens, weil man sich an "ermordete Juden gewöhnt habe".
von Susanne Bobek
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