Jugendaufstand in der Nähe von Versailles
Die jüngsten Unruhen in der Trabantenstadt Trappes, nur zehn Kilometer vom Prunkschloss Versailles entfernt, werden von der französischen Öffentlichkeit als kein Sonderereignis empfunden. Vielmehr handelt es sich bei den nächtlichen Straßenschlachten zwischen hunderten Jugendlichen und Sondereinheiten der Polizei um Ereignisse, die mit trister Regelmäßigkeit und gemäß einem bereits eingespielten Schema Sozialsiedlungen in den verschiedensten Regionen Frankreichs erschüttern. Nur die Anlässe variieren: in Trappes war es die Festnahme einer vollverschleierten Muslimin.
Schleier-Verbot
Seit Oktober 2010 ist in Frankreich ein Gesetz wirksam, das das „Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum“ verbietet. Aus Sorge vor Zusammenstößen schauen Polizisten aber oft weg. Insgesamt wurden bisher nur 705 diesbezügliche Kontrollen vorgenommen, davon betrafen 200 die Träger von Masken oder Vermummungen und bloß 500 Trägerinnen des so genannten „Nikab“ saudischer Provenienz. Wobei es sich vielfach um dieselben „Wiederholungstäterinnen“ handelt. Normalerweise beschränkt sich die Intervention der Polizei auf eine Feststellung der Personalien, an die Betreffende ergeht anschließend eine Aufforderung zu einer Strafzahlung. In Trappes kam es aber am vergangenen Freitag es sofort zu einem Handgemenge mit der Nikab-Trägerin, ihrem Mann und ihrer Mutter.
Beschimpfungen
Die Behörden behaupten, der Mann habe die Polizisten unflätig beschimpft und einen Beamten zu erwürgen versucht. Das kontrollierte Ehepaar, das erst vor kurzem vom Christentum zu einer hyperfundamentalistischen Variante des Islams konvertiert war, beteuert hingegen, sie seien grundlos misshandelt worden: die Frau habe die Absicht gehabt, ihren Gesichtsschleier zu lüften, sei aber beschimpft und „mit unglaublicher Gewalt“ gegen den Streifenwagen gestoßen worden. Beide wurden festgenommen, inzwischen aber wieder freigelassen, wobei gegen den Ehemann ein Verfahren eingeleitet wurde. Zeugen, die die Version der beiden bestätigen, begleiteten die Mutter des Paars ins Kommissariat, um ihrerseits Anzeige zu erstatten. Diese sei aber nicht entgegen genommen worden.
Feuerwerkskörper gegen Flashball
In der darauf folgenden Nacht versuchten rund 200 Halbwüchsige und junge Männer das örtliche Kommissariat zu stürmen, Autos gingen in Flammen auf. Ein Jugendlicher verlor ein Auge durch einen Flashball der Polizei. Die Jugendlichen hatten ihrerseits in Mörser umgewandelte Feuerwerkskörper eingesetzt. In den anschließenden Nächten wiederholten sich Zusammenstöße, aber in wesentlich geringerem Ausmaß, nachdem Einheiten der Ordnungstruppe CRS in Trappes Stellung bezogen hatten und ein Polizeihubschrauber über den Siedlungen kreiste. Innenminister Manuel Valls, der am Montag dem Kommissariat in Trappes einen Solidaritätsbesuch abstattete, erklärte von Anfang an, er vertraue der Version der Polizisten. Er werde für die „Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“ sorgen, die Gewalttaten seien „durch nichts zu rechtfertigen“.
Trotzdem beschuldigten bürgerliche Oppositionspolitiker all sofort die sozialistische Staatsführung, durch ihren „laxe Haltung“ und „Gutgläubigkeit“ die „religiös-gemeinschaftlichen Spannungen und Kriminalität zu begünstigen“. Umgekehrt klagen Sprecher der Vororte-Jugend, die Linksregierung und namentlich Innenminister Valls, hätten entgegen ursprünglichen Versprechen, nichts unternommen, um die andauernden, demütigenden und oft mit Beschimpfungen einhergehenden Kontrollen durch die Polizei durch klarere gesetzliche Richtlinien einzudämmen. Außerdem werfen sie Valls vor, er habe nach kürzlichen Attacken – vermutlich durch rechte Schläger – gegen muslimische Kopftuch-Trägerinnen in einem Pariser Vorort, nur mit Verzug und halbherzig reagiert.
Perspektivlosigkeit
Die meisten Beteiligten wirken freilich hilflos angesichts der sozialen Misere: von den annähernd fünf Millionen Einwohnern der so genannten „sensiblen urbanen Zonen“ Frankreichs, leben über 36 Prozent unter der Armutsgrenze. Die bereits hohe durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit Frankreichs (24,6 Prozent), erreicht in diesen Vierteln das doppelte Niveau. Auch mit den oft bedeutenden städtebaulichen Renovierungen und Neugestaltungen der letzten Jahrzehnte konnte man dieser verheerenden Perspektivlosigkeit nicht beikommen.
So bieten die Sozial-Siedlungen in Trappes, die von den jüngsten Unruhen betroffen sind, eine durchaus angenehme bauliche Ambiente: die einstigen Betonburgen wurden durch kleinere, gut durchdachte Wohn-Einheiten ersetzt und mit gepflegten Gartenanlagen versehen. Auch für Einkaufsmöglichkeiten und Jugendzentren ist gesorgt. Gänzlich wirkungslos blieben diese Anstrengungen zugunsten der Vororte aber nicht: eine der Folgen ist die immer häufigere Entfaltung, so wie in Trappes, von Initiativen der Einwohner und vor allem der Einwohnerinnen, diese positive Ambiente gegen Vandalismus zu schützen und auf eigene Initiative, den Teufelskreis zwischen Drogendeal, tödlichen Fehden unter Jugendbanden und Inkompetenz der Behörden zu durchbrechen.
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