Italien fühlt sich an EU-Außengrenze alleingelassen

Reform von Europas Einwanderungspolitik gefordert. Österreich will neuen, fixen Verteilungsschlüssel.

Täglich, sagt Pierfrancesco Majorino im Interview mit dem KURIER (siehe unten), würden in Mailand neue Flüchtlingsfamilien ankommen. Italien ist zur Drehscheibe für Flüchtlinge aus Nordafrika geworden, die ins gelobte Land Europa wollen. Erst am Wochenende hat die italienische Marine vor Sizilien wieder 2600 Migranten gerettet; seit Jahresbeginn haben 66.000 Flüchtlinge Italien erreicht.

Italien will den Ratsvorsitz der Union, den es bis Jahresende innehat, nützen, um eine Neuausrichtung in der EU-Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Am Dienstag befassten sich die EU-Innenminister bei ihrem informellen Treffen in Mailand mit dem Thema.

Angedacht wird seit Längerem ein Mix aus Maßnahmen: Die illegale Zuwanderung soll schärfer kontrolliert werden, gleichzeitig soll es ein System zur legalen Zuwanderung geben – beides soll Schlepperei und die waghalsigen Fahrten mit überfüllten Flüchtlingsbooten eindämmen. Für jene, die auf geordnetem Weg nach Europa kommen, soll eine angemessenere Aufteilung auf die EU-Länder entwickelt werden.

Welche Solidarität?

Italien fühlt sich an EU-Außengrenze alleingelassen
Statt Lösungen gab es am Dienstag jedoch – wieder einmal – eine Debatte über mangelnde Solidarität.

Die Regierung in Rom fühlt sich von den Euro-Partnern im Stich gelassen, Innenminister Angelino Alfano fordert für die italienische Marine mehr Unterstützung beim Schutz der EU-Außengrenze und der Rettung von Bootsflüchtlingen.

Alfanos Kollegen fordern derweil eine andere Form der Solidarität ein: Es sei "interessant", dass "viele Flüchtlinge, die in Italien ankommen, gar nicht in Italien bleiben", sagte der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere. Viele würden "ohne die dafür vorgesehenen Verfahren" u. a. nach Deutschland und Österreich kommen. "Darüber ist auch zu sprechen, wenn es um Solidarität geht."

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner regte an, Flüchtlinge sollten an "Hotspots" in Nordafrika ausgewählt und nach einem Schlüssel proportional zur Bevölkerungszahl aufgeteilt werden; Österreich würde schon jetzt seine Quote "übererfüllen" (siehe Grafik).

Pierfrancesco Majorino (41), der sozialpolitische Referent in der Mailänder Stadtverwaltung, appelliert im Interview mit dem KURIER an Italien und auch an die gesamte EU, endlich Verantwortung für den Flüchtlingsnotstand zu übernehmen. Majorino koordiniert die Informationsstelle für Flüchtlinge, die von der Stadt vergangenen Oktober nach der syrischen Flüchtlingswelle auf dem Mailänder Hauptbahnhof eingerichtet wurde.

Die norditalienische Wirtschaftsmetropole ist für die meisten Flüchtlinge aber nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Nordeuropa. In den vergangenen acht Monaten wurden 11.000 Personen in Mailand kurzfristig mit Nahrung, Unterkunft und Asylberatung versorgt.

KURIER: Was erwarten Sie vom Treffen der EU-Innenminister in Mailand, bei der die Flüchtlingspolitik im Mittelpunkt steht?

Pierfrancesco Majorino: Ich erwarte mir von der EU, dass sie aufhört, weiterhin vor dem Flüchtlingsnotstand die Augen zu verschließen. Die Dublin-II-Verordnung (demnach ist jeweils das Land zuständig ist, über das Asylbewerber in die EU einreisen, Anm.) ist ein Desaster und praxisfern. Es muss eine grundlegende Änderung des Asylrechts geben – mit internationalem Schutz und temporärem freien Personenverkehr innerhalb der EU.

Wie ist die aktuelle Situation in Mailand?

Es treffen täglich syrische Familien, Somalier und Eritreer ein. Sie kommen mit dem Zug aus Sizilien oder Kalabrien und haben wochenlange Strapazen und eine lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer hinter sich. Mailand ist die Drehscheibe auf der Durchreise Richtung Nordeuropa.

Sie haben Innenminister Alfano wegen seiner "kompletten Abwesenheit und Bewegungslosigkeit" in der Flüchtlingsfrage kritisiert. Hat sich mittlerweile etwas geändert?

Es gibt keinerlei Organisation oder Management auf nationaler Ebene bei der Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen. Staatliche Institutionen haben bisher komplett versagt. Die Räumlichkeiten etwa auf dem Mailänder Hauptbahnhof, die uns von der Regierung zur Verfügung gestellt wurden, genügen nicht.

Welche konkreten Forderungen stellen Sie an die Regierung?

Die Mailänder Stadtverwaltung fordert von Rom – bisher leider ungehört – drei Punkte: Es müsste einen nationalen Plan mit einer Quotenregelung zu einer ausgewogenen Verteilung und Aufnahme von Flüchtlingen unter allen Regionen Italiens geben. Weiters soll es eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung für Flüchtlinge geben, die es den Menschen erlaubt, sich in Europa frei zu bewegen – ohne, wie es derzeit der Fall ist, in die Hände krimineller Schlepper getrieben zu werden. Zudem werden noch dringend weitere Notunterkünfte gebraucht, da die Zahl der Ankünfte weiterhin zunehmen wird.

Australiens Premier Abbott setzt seine harte Linie im Umgang mit Flüchtlingen konsequent durch. Er lässt die Asylsuchenden bereits auf hoher See davonjagen. Kein einziges Flüchtlingsboot erreichte daher in den vergangenen sechs Monaten die Küste. Zuletzt stoppte die Küstenwache ein Boot aus Sri Lanka. 41 Flüchtlinge wurden sofort als solche abgelehnt und der Marine ihres Heimatlandes übergeben. Menschenrechtler kritisierten, dass die Menschen womöglich in ihrer Heimat verfolgt würden. Ein Gericht in Melbourne untersagte derartige Aktionen der Küstenwache und ordnete an, dass die Behörden eine geplante Übergabe drei Tage vorher anmelden müssen.

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