Das Pokerspiel der EU mit der Türkei
80.000 Asylwerber allein im September – das schafft nicht einmal mehr Schweden, das Musterland der Flüchtlingspolitik. Ministerpräsident Stefan Löfven fiel es nicht leicht, die Einführung von Grenzkontrollen – zumindest für zehn Tage – im bisher so offenen und liberalen Land zu erklären.
Seine Stimme stockte, er wirkte nervös: "Das ist kein Zaun", beteuerte er gegenüber seinen EU-Kollegen auf Malta, "aber wir müssen wissen, wer zu uns kommt." Der Zaun an der slowenisch-kroatischen Grenze, der Kurswechsel in Deutschland ebenso der Schäuble-Vergleich des Flüchtlingsstromes mit einer "Lawine", also mit einer schweren Naturkatastrophe, waren nur einige der alarmierenden Meldungen, die den EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Krisentreffen um die Ohren flogen.
Schengen retten
Und was nicht mehr zu leugnen ist, nämlich das allmähliche Ende der Reisefreiheit, will Ratspräsident Donald Tusk noch nicht wahrhaben: „Schengen zu retten ist ein Rennen gegen die Zeit, aber wir sind entschlossen, dieses Rennen zu gewinnen.“ – „Nur dann, wenn wir die Flüchtlingsbewegungen bremsen“, unterbrach Tusk ein Regierungschef. „Wir müssen mit der Türkei und mit Griechenland etwas weiterbringen“, verlangte Bundeskanzler Werner Faymann.
Gespannt warteten die EU-Spitzen auf den Bericht des ersten Vizepräsidenten der EU-Kommission, Frans Timmermans. Er kam direkt aus der Türkei angereist und hatte eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Ankara will in der Flüchtlingspolitik mit der EU kooperieren. Die schlechte: Der Preis dafür ist hoch.
Die Türkei will mindestens drei Milliarden Euro für die Versorgung von rund 2,2 Millionen Kriegsflüchtlingen aus Syrien. Und sie bekommt die Summe auch in den nächsten zwei Jahren. Ursprünglich setzte die EU als Obergrenze zwei Milliarden an. Seit 2011 gab die Türkei für Flüchtlinge 7,2 Milliarden aus, gab aber dann nach. 500 Millionen kommen aus dem EU-Budget, den Rest bringen die EU-Staaten auf, Österreich wird 57 Millionen zahlen müssen. Ein detaillierter Aktionsplan soll bei einem Türkei-Gipfel Ende November in Brüssel vereinbart werden. Eine Prestige-Sache für Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist die Visa-Liberalisierung. Die EU will zunächst nur Business-Leuten, Studenten und Forscher die freie Einreise in die EU gewähren. Der Türkei will die Visa-Freiheit für alle Bürger ab 2017. Offen ist auch die Frage, ob und wie viele Flüchtlinge die Türkei als künftiger sicherer Drittstaat von EU-Mitgliedern zurücknimmt.
Athener Langsamkeit
Gereizt reagieren mittlerweile manche EU-Staaten gegenüber Griechenland. Die Aufnahme- und Registrierzentren funktionieren immer noch nicht, die EU-Außengrenze zur Türkei ist löchrig und die vereinbarten 50.000 Quartiere fehlen. Athen soll geholfen werden, ein Stab der EU nimmt die Umsetzung der Maßnahmen in die Hand. Dass Beschlüsse nicht realisiert werden, ist aber nicht nur eine Eigenheit der Griechen. Auch andere Länder hinken nach. Entlang der Balkanroute fehlen auch Tausende Unterkünfte und es gibt nachhaltigen Widerstand gegen fixe Quoten.
Leicht genervt stellte Kanzler Faymann dazu fest: "Wenn alle Beschlüsse umgesetzt würden, bräuchte es keine nationalen Alleingänge, keine Zäune und Grenzkontrollen."
Die EU und Afrika haben sich bei ihrem Treffen in Malta auf einen umfassenden Aktionsplan geeinigt. Dieser soll Fluchtursachen und Schlepper bekämpfen, Binnenvertriebenen umfassenden Schutz gewähren sowie Möglichkeiten für legale Migration eröffnen und eine Wiederaufnahme von in Europa abgelehnten Asylsuchenden sichern. Vor allem die letzten beiden Punkte waren bis zum Schluss umstritten.
Was die legale Migration nach Europa betrifft, konnten die afrikanischen Länder, die ursprünglich fixe Aufnahmequoten in der EU gefordert hatten, zumindest einen Teilerfolg erzielen. Der gemeinsam beschlossene Text sieht nun bis spätestens Ende 2016 "Pilotprojekte" vor, im Rahmen derer "einzelne EU-Mitgliedsstaaten Angebote legaler Migration bündeln (etwa für Arbeit, Studium, Forschung oder Berufsausbildung)".
Menschenrechte respektieren
Auch bei den Rücküberführungsabkommen, die vor allem von europäischer Seite mit Nachdruck gefordert worden waren, konnten sich die afrikanischen Staaten in einigen Punkten durchsetzen. Diese haben von Anfang an auf deren Freiwilligkeit beharrt. "Wir bevorzugen eine freiwillige Rückkehr und unterstreichen, dass alle Rückführungen die Menschenrechte und -würde respektieren müssen", heißt es in der politischen Abschlusserklärung des Gipfels. Auch die explizite Anerkennung von europäischen Ersatzreisedokumenten für abgelehnte afrikanische Asylwerber ohne Pass (laissez passer) flog aus dem Aktionsplan.
Fehlende Reisedokumente sind einer der Hauptgründe, warum viele afrikanische Staaten ihre Bürger im Fall einer Abschiebung aus Europa nicht wieder zurücknehmen wollen. Hier sieht der Aktionsplan nun eine aktivere Rolle afrikanischer Länder vor. Bereits im ersten Quartal 2016 sollen zumindest zehn Staaten Einwanderungsbeamte nach Europa schicken, um dort "die Staatsbürgerschaften illegaler Migranten, die kein Anrecht auf internationalen Schutz haben, festzustellen und zu überprüfen", damit diese zurückgeschickt werden können. Auch dies soll auf "freiwilliger Basis" erfolgen.
Flüchtlingszentren
Vorerst vom Tisch ist hingegen der europäische Wunsch nach Flüchtlingszentren entlang der Transitrouten innerhalb Afrikas. Diese Idee sollte "gemeinsam geprüft werden", heißt es im Aktionsplan lediglich. Ähnliches gilt für "Informationszentren", in denen Flüchtlinge registriert aber auch über "sichere" Rückkehrmöglichkeiten informiert werden sollen. Ein erstes dieser "Multifunktionszentren" soll zwar in Niger entstehen, weitere sollen jedoch nur "auf Wunsch" der betroffenen Staaten entstehen.
Damit wurden so gut wie alle heiklen Punkte mittels des Konzepts der "Freiwilligkeit" umgangen und riskieren - wie das bei einer Vielzahl ähnlicher Abkommen der Fall ist - nicht umfassend umgesetzt zu werden. Der vorliegende Aktionsplan sei "ein Kompromiss", sagte Maltas Präsident Joseph Muscat dann auch bei der Abschlusspressekonferenz des Gipfels. Aber immerhin handle es sich um das erste Mal, dass die europäischen und afrikanischen Staaten gemeinsam an einer Lösung für das Flüchtlingsproblem gearbeitet hätten: "Und darauf sollten wir stolz sein."
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