Warum so viele Syrer jetzt nach Europa fliehen
Erwartungsvoll sitzt der Innendekorator Ammar Sukar, Syrer, Vater von drei nicht erwachsenen Söhnen, vor mir: "7000 Dollar haben wir noch", sagt er. "2500 haben mir Typen abgenommen, die uns aus dem Libanon in die Türkei brachten." 7000 Dollar, umgerechnet 5000 Euro, für eine fünfköpfige Familie, dazu prall gefüllte Rucksäcke und die Nummer eines Bekannten, der es schon geschafft hat. Heißt, bald wird es losgehen auf der üblichen Route, Griechenland, Balkan, Ungarn, Österreich und dann: Traumziel Deutschland.
5000 Euro sind für einen syrischen Innendekorateur viel Geld, aber die Summen, die er und andere Flüchtlinge bei sich haben, sind schnell erklärt. Bei den Ammars gehört Sparen wie bei allen Familien in Nahen Osten zum Leben dazu. Kostbare Dollar-Scheine werden ständig beiseitegelegt für mögliche Hochzeiten oder unerwartete Operationen.
Es gibt so gut wie nichts, was nach Wohlfahrtsstaat aussieht. Altersversorgung existiert nicht einmal auf dem Papier. Schulen sind nur gut, wenn sie privat sind, heißt teuer. Geld wird von Verwandten ausgeliehen – solche Netze funktionieren wie geschmiert.
Von Bomben vertrieben
Trotz seines "Reichtums" ist Ammar einer von vielen Syrern, die früher nie daran gedacht hätten, nach Europa auszuwandern. Wie auch? Die EU hat kein Einwanderungsprogramm. Als Innendekorateur mit eigenem Geschäft lebte er gut, ohne Schulden und interessierte sich mehr für Fußball als für Politik, wie viele Syrer.
Weg aus seiner Heimat wollte er nicht, sondern er musste. Sein Haus wurde von einer Bombe zerstört, das Auto von einer anderen. Nun existieren beide nur mehr als Erinnerungsfotos auf seinem Samsung.
Nur zu gerne hätte er im Libanon eine zweite Heimat für seine Familie gefunden. Es wurde nichts aus dem Plan. Denn für Syrer wie ihn begann 2011 die erste Katastrophe, die Flucht. 2015 die zweite. Hilfe blieb plötzlich aus.
Lange hatten Hilfsorganisationen über eine gewisse "Spendenmüdigkeit" für Syrien-Opfer geklagt. Anfang 2015 war nur ein Viertel des erwarteten Geldes eingegangen. Kleinere Hilfsprogramme wurden daraufhin dramatisch gekürzt. Dann kamen die Großen dran, dann brach die Syrien-Unterstützung von Organisationen wie der UN-Organisation WFP, des Welternährungsprogramms, ein. Für Hunderttausende syrische Flüchtlings-Kinder musste der Schul-Unterricht in Lagern gestrichen werden. Ab August wird die UN Essens-Rationen in Jordanien ganz einstellen. Geldzuweisungen für Nahrung in anderen Ländern werden um ein Drittel gekürzt: Bisher bekamen Flüchtlinge ohnehin nur 15 Euro pro Monat pro Person.
UN-Mitarbeiter, die mich in Gaziantep mitnehmen zu einer syrischen Familie, sprechen es zwar nicht so aus, aber noch weniger Hilfe wird vielleicht zu Unterernährung und Hunger führen. Tausende Syrer leben schon jetzt an der Grenze, in Wohnungen ohne Möbel. An Orten, wo Kinder niemals eine Ausbildung bekommen. Verkehrte Wirklichkeit: Arme Syrer gehen nicht nach Europa. Anders als Ammar haben sie nicht einmal Geld für einen Autobus in eine Nachbarstadt.
Zu viele Krisen
Laut Helfern ist die Erklärung für den Einbruch an Spenden leicht zu erklären: Es gibt zu viele Krisen und Flüchtlinge wie die Ebola- Epidemie oder der wieder aufgeflammte Krieg im Süd-Sudan. Was die an Mitteln verschlingen, fehlt den Syrern.
In Jordanien, zweites Zufluchtsland der armen und weniger armen Kriegsopfer aus Syrien, hat sich längst herumgesprochen, bald wird jede Hilfe eingestellt. Daher enden in der türkischen Hafenstadt Bodrum, Tor nach Griechenland, nun zunehmend Flüchtlinge aus Jordanien. Wie Ammar reisen sie auf abenteuerlichen Wegen, manchmal durch das syrische Kriegsgebiet, in die Türkei, nur weil man von dort leichter wegkommt – nach Europa. Und die Probleme sind mit der Flucht von Hunderttausenden auch nicht ausgestanden: "Wir haben keinerlei Reserven. Kommt ein neuer Flüchtlingsstrom aus Syrien, können wir den Leuten nicht einmal Wasser anbieten", sagt die WFP- Mitarbeiterin Azhar Alazzawi.
Ein Albtraum, der jede Minute Wirklichkeit werden kann: Der radikale IS rückt vor und vertreibt Frauen und Kinder aus dem eroberten Gebiet vor allem in die Türkei. Ein Land, wo allein 2,5 Millionen Syrer leben, mehr als doppelt so viele Flüchtlinge, als nach Europa kamen.
Auch da muss heute gespart werden: Neun der insgesamt 20 riesigen Flüchtlingslagern in der Türkei wurde jede UN-Hilfen gestrichen. 100.000 Syrer sind damit auf sich selbst gestellt.
Zumindest wird in der Türkei die Grundversorgung von der Erdogan- Regierung übernommen. Das WFP ist voll des Lobes: " Als wir in anderen Ländern die Nahrungshilfe kürzen mussten, ist die türkische Regierung hier eingesprungen." Andere unterstellen Erdogan hingegen strategischen Weitblick – auf Kosten der Kurden: " Erdogan kümmert sich um die sunnitischen Syrer, weil er sie in der Ost-Türkei in Zukunft ansiedeln möchte, im Kurden-Gebiet", meint ein Kritiker des Präsidenten.
Die Gegenwart in der Türkei ist schwierig genug. Seit 2014 hat sich die Wirtschaftslage verschlechtert. Syrische Taglöhner, meistens als Schwarzarbeiter beschäftigt, werden weniger gebraucht. Pakistani, oft jahrelang in der Türkei, wollen daher jetzt plötzlich weg. Sie nützen die Gunst der Stunde, obwohl ihre Heimat Pakistan relativ friedlich ist: "Ich habe lange in der Türkei gearbeitet", erzählt mir ein Kandidat für die Überquerung nach Europa. "Gehälter sind schlecht. Ich habe nur für ein Zimmer und Essen geschuftet." Er fügt hinzu: "Ich will ein schönes Handy!"
Fluchtwellen haben eben nicht nur einen Grund: Schon vor Monaten prophezeite mir ein deutscher Helfer in der Türkei einen massiven Flüchtlingsstrom von Syrern nach Europa, Nachbar-Kontinent, leicht zu erreichen. Es gebe zu wenig Mittel in der Region, keine politische Syrien-Lösung, keinerlei Hoffnung. War also alles abzusehen? Nicht viel geschah inzwischen.
Telefon als Fluchthelfer
Daher bereiten sich stündlich Leute wie Ammar vor, für den großen Tag. Sein Fluchthelfer ist kein raffinierter Schmuggler, sonder ein raffiniertes Smartphone. Werkzeug, das ihm die jüngsten Nachrichten liefert, ihn informiert, der Krieg in Syrien würde weitergehen, die UN hätte kein Geld mehr oder Ungarn wolle einen Zaun errichten. Er erfährt alles. Daher ist sein Handy für ihn wie für alle Flüchtlinge wichtiger als ein Rettungsring. Bei den Jungen sind darauf Apps runtergeladen wie: "How to come to Europe without smuggler" – wie nach Europa kommen ohne Schmuggler. Auf Ammars Telefon gibt es eine Landkarte, wo er sich die Routen anschauen kann, Routen nach Europa. Was er sonst noch braucht, erfährt er per SMS von anderen Flüchtlingen, Leute eben des 2q-Jahrhunderts.
Warum nach Europa, frage ich ihn? Warum das Risiko einer Flucht auf sich nehmen? "In Europa gibt es Arbeit und Freiheit", erwidert er. Bilder vom idealen "Freiheits- und Arbeitsland Deutschland" hat sich die Familie offenbar bereits bei Google angesehen. Und die Suchmaschine hat Frau und Söhne überzeugt, denn alle sind beinahe aufgeregt. Bald geht’s los. "Vor dem Meer habe ich Angst", fügt Ammars Frau nur hinzu.
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