"Grenzen halten uns nicht ab"

Flüchtlinge an der Küste in der Nähe von Izmir
Dass Europa Grenzzäune hochzieht, kümmert die syrischen Flüchtlinge in Istanbul nicht. Ihr Ziel bleibt trotzdem Deutschland.

Ein sonnig-kalter Dezembermorgen in Istanbul. Mehmet, 51, setzt seine Thermosflasche mit heißem Wasser auf einer Mauer ab. Pappbecher, Zucker, Plastiklöffel und eine Dose mit löslichem Kaffee stellt er daneben – jetzt beginnt für Mehmet das Warten auf Kundschaft in der Nähe einer U-Bahnstation in Aksaray, einem Viertel im europäischen Teil der türkischen Metropole. Passanten hasten vorbei, niemand bleibt stehen, um schnell einen heißen Kaffee zu trinken. Viel Geld kann Mehmet so nicht verdienen.

Überlebenskampf

Vor zwei Jahren floh er mit seiner fünfköpfigen Familie aus dem Krieg in seiner Heimat Syrien in die benachbarte Türkei. Wie mehr als eine halbe Million andere Syrer schlägt er sich jetzt in Istanbul durch – laut manchen Schätzungen leben in der Stadt am Bosporus mehr Syrer als in ganz Westeuropa zusammen. Um die Miete von umgerechnet rund 200 Euro pro Monat in einem Mietshaus zusammenzukratzen, muss Mehmets Geschäft mit dem Instant-Kaffee schon gut laufen. Meistens läuft es nicht gut. Will er in der Türkei bleiben? Mehmet schnaubt verächtlich. "Wenn ich das Geld hätte, würde ich sofort nach Deutschland fahren." Mehrere seiner Freunde, allesamt Flüchtlinge aus Syrien, pflichten ihm bei.

Dass Europa den Strom der Flüchtlinge eindämmen und dazu mit der Türkei kooperieren will, haben die Männer zwar gehört, doch beeindruckt davon sind sie nicht. Weder die vage Aussicht auf bessere Lebensbedingungen in der Türkei dank der versprochenen EU-Milliarden noch die schärferen Grenzkontrollen durch die Türkei halten sie von der illegalen Reise nach Europa ab. Einzig und allein der Geldmangel zwingt sie, in Istanbul zu bleiben.

"Schau", sagt einer der Syrer und zeigt auf die Durchgangsstraße, die am Polizeihauptquartier vorbei Richtung Autobahn führt. "Heute Abend fahren die Busse wieder los nach Izmir", jener Stadt an der Ägäis, die zum Magneten für Flüchtlinge geworden ist, die in die EU wollen.

1000 Dollar für Flucht

"Von Izmir aus geht’s mit dem Boot nach Griechenland. Und fertig", sagt der Syrer Ismail. "Alles, was du brauchst, sind 1000 Dollar für die Überfahrt." Ismail, der in Syrien als Baggerfahrer gearbeitet hatte, bevor seine Familie bei den Gefechten dort getötet wurde, würde lieber heute als morgen nach Europa gehen. "Deutschland ist die Nummer eins", sagt er. In Deutschland, so haben ihm Freunde gesagt, sei es für Flüchtlinge viel besser als in der Türkei, wo es keine Arbeitsgenehmigungen für Syrer gibt, dafür aber jede Menge Scherereien mit den Behörden. "Ich habe gehört, in Deutschland brauche man nur ein einziges Dokument, und alles ist geritzt."

Ein paar Hundert Kilometer südwestlich von Istanbul setzen die türkischen Behörden in diesen Tagen ein Zeichen. Fast 2000 Flüchtlinge sind allein seit dem türkisch-europäischen Gipfeltreffen vom vorvergangenen Wochenende vor der Überfahrt auf die griechischen Ägäis-Inseln gefasst worden. In Griechenland sank zuletzt die Zahl der ankommenden Syrer, Iraker und Afghanen. Die türkischen Sicherheitskräfte hätten die Zahl der Straßenkontrollen entlang der Küste bei Izmir deutlich erhöht, berichten Medien.

Eine reine Schauveranstaltung? In türkischen Regierungskreisen heißt es, die sinkenden Flüchtlingszahlen seien auch ein Resultat des entschiedenen Vorgehens gegen Schlepperbanden. Mehr als 100 Banden-Chefs seien mittlerweile hinter Schloss und Riegel. Die Festnahmen hätten abschreckende Wirkung.

Passfälscher

In Aksaray ist davon nichts zu sehen. Der Stadtteil ist ein Zentrum für Migranten aus Syrien und dem Irak und für Touristen aus dem arabischen Raum. Hier haben sich nicht nur Geschäfte mit arabischen Schriftzeichen auf Gäste aus Nahost spezialisiert, sondern auch Menschenschmuggler und Passfälscher. Seit sich herumgesprochen hat, dass Syrer in Westeuropa fast automatisch als Flüchtlinge anerkannt werden, sind syrische Pässe sehr begehrt.

Doch auch Pässe kosten Geld, genau wie die Überfahrt nach Griechenland. Syrer wie Mahmut, ein 28-jähriger Bäcker, müssen deshalb weiter warten. In der Türkei sieht er keine Perspektive. "Selbst wenn du Arbeit findest, wirst du am Ende nicht bezahlt", sagt er bitter: Manche türkische Arbeitgeber nutzen eiskalt aus, dass die Flüchtlinge offiziell nicht arbeiten dürfen.

Aber wo will sich einer wie Mahmut beschweren, wenn er trotz schwerer Arbeit auf dem Bau leer ausgeht? "Das Leben in der Türkei ist hart", sagt er. "In Europa ist es menschlicher."

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