Integration ist unsere Erwartung an diejenigen, die kommen
KURIER: Man muss dem Wähler immer recht geben, heißt es. Aber darf man seine Weisheit auch hinterfragen, wenn nur eine Koalition mit vier Parteien möglich ist? Jamaika wird eine schwierige Koalition.
Christian Lindner: Das Ergebnis der Bundestagswahl spricht eine deutliche Sprache. Die Menschen erwarten eine andere Politik, insbesondere in der Einwanderungspolitik. Stimmen aus der Union – man wüsste nicht, was man in den letzten vier Jahren falsch gemacht habe –, können nicht Basis für eine Koalition sein. Es muss Trendwenden geben, wenn die FDP der Regierung angehören soll.
Zumindest das Thema Obergrenze ist jetzt in der Union geklärt. Reicht Ihnen das so?
Das wesentliche Problem ist nicht gelöst. Deutschland hat bei der qualifizierten Einwanderung viel gedrosselt, kontingentiert und geregelt, aber beim humanitären Schutz gab es sehr wenig Kontrolle – umgekehrt wäre es aber richtig.
Sie verlangen jetzt ein Einwanderungsgesetz. Warum erst jetzt und nicht vor 20 Jahren?
Sie haben völlig recht. Der erste Entwurf eines Einwanderungsgesetzes der FDP ist 20 Jahre alt. Damals gab es aber zwei Probleme: Auf der einen Seite die politische Linke und die Grünen, die sich weigerten, klare Erwartungen zu artikulieren. Das muss sich ändern. Integration ist nicht zuerst Aufgabe der aufnehmenden Gesellschaft, Integration ist unsere Erwartung an diejenigen, die kommen. Zum anderen glaubten die Konservativen, den Fachkräftenachwuchs schaffen wir durch mehr Kinder. Jetzt ist der demografische Wandel soweit fortgeschritten, dass jede Frau im gebärfähigen Alter im Schnitt sieben Kinder bekommen müsse – wir brauchen daher qualifizierte Zuwanderung.
Die Wahl von Herrn Macron ist ein Glücksfall. Man muss die Gelegenheit nutzen, mit ihm Europa weiterzuentwickeln, etwa beim Grenzschutz, bei den Sicherheitsbehörden. In der Fiskalfrage gibt es bei der FDP unterschiedliche Nuancen – unser Ziels ist finanzpolitische Eigenständigkeit, keine Vergemeinschaftung von Risiken und Schulden, und keine Umverteilung von Geld, wenn nur Defizite und Reformversäumnisse ausgeglichen werden sollen.
Aber ein Stück Schuldenunion sind wir ja bereits.
Ja, aber zu viel.
Muss es einen Prozess geben, wie man verschuldete Staaten aus dem Euro hinauswirft?
Es muss ein Insolvenzrecht für Staaten geben und klare Regeln, was passiert, wenn ein Staat seine Schulden nicht mehr tragen kann. Wir wollen eine Möglichkeit schaffen, dass ein Staat selbst entscheiden kann, die Währungsunion zu verlassen. Es geht nicht ums Rauswerfen.
NEOS-Chef Strolz spricht gerne von den Vereinigten Staaten von Europa. Teilen Sie das?
Matthias ist ein visionärerer Kopf als ich, der blickt in eine fernere Zukunft. Ich selbst fahre mehr mit Abblendlicht, wo der Matthias mit Fernlicht unterwegs ist.
Sie sind wieder im Bundestag, die NEOS werden in den Nationalrat kommen, wirklich starke Kräfte sind Sie noch nicht. Warum tun sich die Liberalen so schwer?
Es gibt positive Entwicklungen, nur in Deutschland und Österreich ist die Mentalität anders. Das optimistische Bild auf den Einzelnen, das Vertrauen in die eigene Kraft, die Skepsis gegenüber dem Staat, das ist in unseren Breitengraden eine dauerhafte politische Mutprobe.
Bei uns gibt es ja auch die FPÖ. Gab es da nie Kontakte?
Die FPÖ war Anfang der 1980er-Jahre Mitglied der Liberalen Internationalen, das war ein historischer Unfall.
Ein FPÖ-Kanzler oder Vizekanzler würde Sie nicht schrecken?
Ich bin ein furchtloser Mensch, aber Österreich muss sich fragen, welches Signal das aussendet. Wenn ich eine Fachkraft wäre: Würde ich meine Kinder in einem Land großziehen wollen, wo eine Partei regiert, die Stimmung gegen Minderheiten macht, deren politisches Immunsystem nicht richtig funktioniert, die manchmal wirkt wie ein Wolf im Schafspelz? Von der man weiß, dass tief drin harte völkische Urteile stecken?
Das ist ja in der AfD genauso. Die haben das Bild eines Volks als ethnische, kulturelle und religiöse Einheit. Das gibt"s aber nicht mehr. Zur deutschen Leitkultur, die aus Opernhaus, Sauerkraut und christlichen Weihnachtsliedern besteht, würde ich als Deutscher in 20. Generation nicht dazugehören. Ich habe einen Freund, der ist Perser, der ist deutscher als ich. Weil der findet Oktoberfeste gut und zieht sich eine Lederhose an.
Empfanden Sie den AfD-Sieg als persönliche Niederlage?
Nein, die AfD hat ein ganz anderes Geschäftsmodell. Die FDP arbeitet mit klaren Antworten, die nicht allen gefallen, und mit Lösungskonzepten, die erklärungsbedürftig sind. Die AfD ist eine Protestpartei, die möglichst auf klare Antworten verzichtet, und die nicht auf Lösung setzt, sondern von Krisen profitieren will.
Noch eine persönliche Frage: Wenn man Christian Lindner googelt, kommt als dritter Eintrag Haartransplantation. Muss man als Politiker heute perfekt aussehen?
Vielen Dank fürs Kompliment. Ich glaube, ich bin weit weg von perfekt. Mir haben meine Geheimratsecken jedenfalls nicht gefallen und dann gab’s mehrere Optionen: Schädel kahlrasieren – da passt meine Kopfform nicht – oder Cremes aus dem Amazonas auftragen und fest glauben, dass es hilft. Ich bin aber Anhänger des technologisch-medizinischen Fortschritts.
Und Sie haben offen darüber geredet, weil...?
Ich rede über alles offen. Ich rede offen darüber, dass ich schon mal, um liberales Wachstum zu generieren, Haare habe transplantieren lassen. Wissen Sie warum? Ich bin in Deutschland Vorsitzender der Partei der Freiheit. Wenn ich meine eigene Freiheit beschränken würde, wenn ich ängstlich wäre, dann würde ich meine politische Grundüberzeugung gar nicht repräsentieren.
Zur Person: Christian Lindner, der Retter der FDP
Ausgangslage: Christian Lindner, 38, steht seit der historischen Niederlage 2013 an der Spitze der FDP. Damals schaffte es die FDP knapp nicht in den Bundestag. Der studierte Politikwissenschaftler verpasste seiner Partei in der außerparlamentarischen Opposition ein völlig neues Image: Statt altbackener Klientelpartei, die Reiche entlasten will, gibt man die jugendlich-dynamische Mittelstands-Partei, die auf Digitalisierung setzt.
Aussichten: Kommende Woche führt Lindner Gespräche mit der Union und Grünen über Jamaika. Welches Amt ihm dann zufällt, sorgt für Spekulationen – das Finanzministerium wäre eine attraktive Möglichkeit.
So viele Parallelen. Da wie dort keine Krawatte, da wie dort das rhetorische Talent, und da wie dort der unerschütterliche Glaube ans Gewinnen: "Rückenwind und Rückenstärkung" soll er bringen, sagt NEOS-Chef Matthias Strolz über Christian Lindner, als man im Gleichschritt den Naschmarkt entlang spaziert.
Der Chef der deutschen FDP, der vor zweieinhalb Wochen den Wiedereinzug in den Bundestag geschafft hat, ist am Mittwoch quasi als Glücksbringer zu Gast in Wien. Freilich, die 10,7 Prozent, die der 38-Jährige mit Posterboy-Image erreicht hat, sind für Strolz derzeit weit entfernt: Die Pinken liegen derzeit bei fünf Prozent, also gerade bei der Hälfte der deutschen Kollegen; und ob man mitregieren kann, so wie die FDP das vermutlich bald wird, ist mehr als offen. Lindner verhandelt ab kommender Woche mit Union und Grünen über eine Jamaika-Koalition, in der er selbst möglicherweise Finanzminister wird.
Kontrapunkt zur AfD
Kontrapunkt
Strolz muss sich vorerst damit begnügen, vor Schwarz-Blau zu warnen. Mit Kurz als Kanzler, einem "Polizeiminister Strache und einem Außenminister Hofer" würde Deutschland einen Allianzpartner verlieren, sagt er, und Lindner nickt. In der Ablehnung der FPÖ und ihres deutschen Pendants, der AfD, ist man sich einig – beide Parteien stellen einerseits einen Kontrapunkt zu den Rechtspopulisten dar, andererseits besetzt man ganz bewusst deren Themen: Lindner hat vor allem mit seiner harten Haltung in puncto Migration Punkte gemacht. Strolz ist da ähnlich: Der FDP-Chef macht ein Einwanderungsgesetz zur Koalitionsbedingung, Strolz pocht darauf, die "Phänomene Asyl und Arbeitsmigration auseinanderzuhalten".
Wer hier von wem gelernt hat, das steht wohl in den Sternen. Lindner sagt am Mittwoch jedenfalls, dass es Strolz war, der ihm Flügel verlieh: Nach der "historischen Niederlage" 2013, als die FDP aus dem Bundestag ‚flog, sei sein Blick nach Österreich gegangen, wo sich ein "politisches Start Up" gegründet habe, das "ganz anders als die gescheiterte FDP" gewesen sei. Das habe ihn beeindruckt: "Unser Comeback wäre nicht ohne die Inspiration aus Österreich möglich gewesen", sagt er.
Ob die Inspiration auch vice versa wirkt, wird man am Sonntag sehen. Hoffen darf man jedenfalls: Die 10,7 Prozent von Lindner , die "würde er schon nehmen", sagt Strolz zum Schluss noch.
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