Fast jeder zweite der 220 Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze. Die Jugend hat Gewalt und Korruption satt – das könnten die Polit-Eliten am Samstag zu spüren bekommen.
Unglaublicher Luxus hinter Mauern und Stacheldraht, Elend und Dreck in den Armenvierteln, ausufernde Gewalt in den Straßen, Korruption bei den Behörden – das nigerianische Lagos ist ein Moloch der Sonderklasse, eine Megacity, die alle Dimensionen sprengt. Rund 15 Millionen Menschen drängen sich dort, das sind so viele wie Finnland und Schweden zusammen Einwohner haben. Mit seinen Widersprüchen und Problemen steht Lagos für das gesamte Land, den Giganten des Kontinents: Mit 220 Millionen hat er die meisten Bürger Afrikas – in 30 Jahren soll diese Menge auf mehr als 400 Millionen anschwellen, womit Nigeria nach Indien und China weltweit die drittgrößte Nation sein wird, mit annähernd gleich vielen Einwohnern wie die EU.
Rund 93 Millionen Stimmberechtigte stellen am Samstag bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen die Weichen zumindest für die mittelbare Zukunft. Wobei die jungen Nigerianer den Ausschlag geben: Fast die Hälfte der Stimmberechtigten ist jünger als 35 Jahre, zehn Millionen haben sich überhaupt erstmals registrieren lassen. Sie könnten den Unterschied ausmachen.
Und um diese bemüht sich vor allem Peter Obi. Mit seinen 61 Jahren ist er auch der jüngste der drei Bewerber, die sich realistische Chancen ausrechnen dürfen, die Präsidentenwahl spätestens dann im direkten Duell in drei Wochen zu gewinnen. Gegenüber Bola Tinubu, 70, dem Kandidaten der Regierungspartei APC vom Volk der Yoruba, und dem Herausforderer der oppositionellen PDP, dem 76-jährigen Atiku Abubakar vom Volk der Hausa-Fulani, präsentiert sich Obi vom Volk der Igbo als Anti-Establishment-Politiker. Das ist er mitnichten: Ehe er zur Labour-Partei wechselte, war er einer der führenden Köpfe der PDP.
Grundübel Korruption
Das tut seinem Umfragen-Höhenflug aber keinen Abbruch. Ein Hauch von „Change“ liegt in der Luft. Auch deswegen, weil der Katholik (seine beiden Hauptrivalen sind Muslime) als Gouverneur des Bundesstaates Anambra zwischen 2006 und 2014 beachtliche Erfolge erzielte. Und: Obi hängen keinerlei Korruptionsvorwürfe nach. Im Gegensatz zu Tinubu, der wegen seines weit reichenden Einflusses in Wirtschaft und Politik auch als der „Pate“ bezeichnet wird, und zu Abubakar, der zum sechsten Mal für das Präsidentenamt kandidiert, einer der reichsten Männer des Landes ist – und ebenfalls in dunkle Machenschaften verstrickt sein soll.
„In Nigeria hat Korruption nicht das politische System unterminiert“, meint der Historiker, Afrika-Experte und Ex-Diplomat Nick Westcott, „Korruption war das politische System.“ Und ist es.
Befeuert wird dieses „System“ durch die Erlöse aus dem Erdöl-Export. Wer immer an der Macht war, bediente sich und sein Klientel großzügig. Sinnvoll investiert wurde das Geld nie, mit der absurden Folge, dass in dem Land mit den riesigen Ölvorkommen das Benzin knapp ist – weil es kaum Raffinerien gibt. Und während wenige unglaublich reich sind, lebt die Masse der Bevölkerung weiter im Elend: 100 Millionen Menschen, also fast 50 Prozent, fristen ein Dasein unter der nationalen Armutsgrenze.
Zu dieser sozialen Zeitbombe kommen andere Konflikte, die den Koloss zusätzlich ins Wanken bringen: Mehr als 250 unterschiedliche ethnische Gruppen sorgen für starke Zentrifugalkräfte. Ganz im Norden treiben Islamisten der Terrorgruppe Boko Haram ihr Unwesen, morden und vergewaltigen. Die Zentralregierung hat de facto keinen Zugriff auf das Gebiet. Drei Millionen Menschen flohen bisher aus ihren Dörfern. Im Zentrum Nigerias eskalieren die Konflikte zwischen vorwiegend muslimischen Viehhirten und christlichen Ackerbauern – in Zeiten der Klimakrise geht es um Land und Zugang zu Wasser. Und im Süden kämpfen Igbo-Separatisten für ein unabhängiges Biafra (wie schon vor fast sechs Jahrzehnten in einem dreijährigen Krieg).
Es geht um Stabilität
Sollte es Peter Obi tatsächlich an die Staatsspitze schaffen, wäre er der erste Igbo in diesem Amt – und eine seiner wichtigsten Aufgabe wäre es, das Land zu befrieden und zu einen. Denn die „Stabilität Nigerias“, sagt der nigerianische Journalist und Analyst, „ist wichtig für die Stabilität Westafrikas und des übrigen Kontinents.“
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