"Nicht das Spiel des ,Islamischen Staats‘ mitspielen"

Terrorismusforscher Neumann: „War nicht der letzte Anschlag“
Terrorforscher und IS-Experte Peter Neumann hält die Anschläge für den Ausdruck einer neuen Taktik.

KURIER: Herr Neumann, stellen diese Attacken in Frankreich eine neue Stufe des Terrors dar?

Peter Neumann: Ja, es hat sich hier zwar seit Jahren schon etwas zusammengebraut, aber auch ich habe nicht erwartet, dass solche komplexen und organisierten Attacken so früh durchgeführt werden könnten. Sie waren direkt vom "Islamischen Staat" gesteuert, das ist neu. Seit 14 Monaten will der IS Anschläge in Europa durchführen, aber bisher hieß es immer, das sollen Einzeltäter machen, die schon in Europa sind, die sollen dort bleiben und schauen, was sie erreichen können. Die Anschläge in Paris waren schon eine Eskalation; viele haben geglaubt, dass der IS dazu gar nicht in der Lage wäre.

Bisher dachte man auch, diese Menschen werden - weil sie der Organisation sonst nicht von Nutzen sein können - als Selbstmordattentäter eingesetzt. Dass sie sonst keine Fähigkeiten haben.

Ja, im Kerngebiet in Syrien und dem Irak werden sie Europäer für Selbstmordanschläge benutzt, weil sie sonst keinen Wert für die Organisation haben. Sie können etwa nicht kämpfen und haben eben so den größten Nutzen für die Organisation. Das war bei diesem Anschlag auch anders: Da gab es schon eine gewisse Expertise, und Intelligenz dahinter, auch Vorbereitung und Kommunikation. Es muss auch eine gewisse Form der militärischen Ausbildung gegeben haben. Das waren Leute, die etwas drauf hatten. Die waren nicht ganz die Elite, aber auch nicht ganz dumm. Das ist schon eine Neuausrichtung, vor allem die zentrale Steuerung.

Stimmt es, dass diese Anschläge eigentlich ein Zeichen der Schwäche waren, weil der IS anderorts zuletzt viel einstecken musste?

Naja, die Schwäche wurde damit übertüncht. In Syrien und dem Irak ist der "Islamische Staat" eher am Verlieren, er ist unter Druck und will davon ablenken. Im Kerngebiet ist er seit Monaten in der Defensive.

Es ist ja auch so, dass viele Unterstützer in Europa - das kann man im Netz verfolgen - schon ein bisschen enttäuscht vom IS waren, und jetzt sind diese wieder voll motiviert. Sie sind oft keine Anhänger der Terrormiliz "Islamischen Staat" aus religiösen Gründen, sondern weil sie auch einmal auf der Seite der Gewinner sein wollen. Das sieht man gerade in Frankreich. Sie wissen genau, dass sie dort die Verlierer sind. Deshalb ist das Image für den "Islamischen Staat" sehr wichtig, er muss erfolgreich aussehen.

Heißt das, dass je erfolgreicher der Westen in Syrien oder dem Irak ist, desto mehr steigt die Terrorgefahr in Europa?

Ja, das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass man dort nicht eingreifen soll. Es ist aber eine mögliche Interpretation der Anschläge von Paris.

Wie lange müssen solche Anschläge geplant werden?

Sicher über mehrere Wochen, wenn nicht gar Monate. Das war eine relativ komplexe Operation. Es war ja auch dezidiert für den Tag des Länderspiels geplant, einige Attentäter sind aus Syrien angereist über Griechenland. Das war im frühen Oktober. Das bedeutet, im September oder noch im August wurden die Anschläge wohl beschlossen. Es handelte sich ja auch um ein Team, das systematisch zusammengestellt wurde. Das waren keine Leute, die einander zufällig trafen, oder welche die einfach im selben Dorf sind. Diese Leute wurden je nach Fähigkeit professionell zusammengestellt.

Können Geheimdienste angesichts der Flüchtlingskrise in solchen Fällen überhaupt noch etwas ausrichten?

Das ist natürlich schwierig, man muss erst einmal rausfinden, was das schiefgelaufen ist. Das waren mindestens acht Leute, wahrscheinlich mehr, da muss viel Kommunikation stattgefunden haben, das läuft ja auch elektronisch. Da müsste man schon davon ausgehen, dass da etwas abgefangen wurde, so wie etwa die NSA flächendeckend mithört.

Beim Thema Flüchtlinge muss man aber vorsichtig und verantwortungsbewusst sein: Da wird jetzt wieder die Debatte aufkommen, dass mit den Flüchtlingen die Attentäter unbemerkt einfallen. Es gibt aber keine massenhafte Einschleusung des IS über die Flüchtlingsströme. Die Flüchtlinge sind zudem gerade vor dem Terror der Miliz geflohen. Es wäre komplett falsch zu sagen, dass all diese Flüchtlinge Terroristen sind.

Ihre Prognose für den IS-Terror?

Es hat sich über längere Zeit etwas zusammengebraut, in Syrien, dem Irak, mit den Auslandskämpfern, etc. Das muss natürlich Konsequenzen haben. Wir werden uns noch einige Jahre mit diesem Terror auseinandersetzen müssen, und das wird leider auch nicht der letzte Anschlag gewesen ein. Es ist eine reale Bedrohung, und sowohl sicherheitspolitisch als auch politisch eine Herausforderung. Man muss sich Gedanken machen, wie man unser Gesellschaftsmodell beibehalten kann und wie man nicht das Spiel des "Islamischen Staats" mitspielt – diese Konfrontation mit schwarz-weißer Weltansicht.

Wird der G-20 Gipfel irgendetwas beitragen können zur Lösung des Problems?

Die Türkei ist gefordert. Einerseits sind ja die Kurden, die gegen den IS kämpfen, eine Bedrohung in den Augen der Türkei; andererseits ist die Türkei so nahe an der Gefahrenzone dran, und erhöht mit eindeutiger Positionierung gegen den IS auch das Risiko von Anschlägen. Man wird sehen, wie sich Erdogan und Davutoglu da positionieren.

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