Wahlenthaltung könnte Favoritin Le Pen bedrohen
Die meisten Franzosen fühlen sich am Vorabend der EU-Wahl im Dickicht von 31 Parteilisten und einer verworrenen Europa-Debatte buchstäblich verloren. Deshalb sind alle Wahlprognosen mit Vorsicht zu genießen. Zwar hat auch eine jüngste Umfrage wieder der "Front national" von Marine Le Pen den Platz eins mit 23 Prozent vorhergesagt, gefolgt von der konservativen UMP (21 Prozent), den Sozialisten (16 Prozent), einer Zentrumspartei (11 Prozent) und den Grünen (9 Prozent). Die Wahlbeteiligung könnte sich auf 40 Prozent beschränken.
Aber so wie in den Niederlanden ist auch in Frankreich eine Überraschung, und zwar jeder Art, möglich: nämlich ein Absacken der „Front National“ (FN) auf Platz zwei, hinter die UMP. Genauso wie ein Anstieg der FN Richtung 30 Prozent denkbar bleibt.
Fest steht, dass die Versuche einer Einbindung der französischen Öffentlichkeit in eine transnationale Kampagne, wie sie die Sozialisten unter Einbeziehung des SPD-Politikers Martin Schulz versuchten, kaum gegriffen haben. Die tonangebenden TV-Sender gingen mit ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf auf EU-Ebene extrem sparsam um.
Was übrig bleibt, sind die immerzu wieder kehrenden ökonomischen Hiobsbotschaften, die die meisten Franzosen in dem Gefühl bestärken in der EU auf der Verliererstraße zu stehen: Nullwachstum der Wirtschaft zu Jahresauftakt, Exportdefizit (minus 61 Milliarden Euro im Vorjahr), Betriebs-Absiedelungen am laufenden Band und scheinbar unaufhaltsamer Industrie-Abbau, keine Aufhellung am Arbeitsmarkt (die Arbeitslosenrate liegt bei über 10 Prozent).
Daher tickt Frankreich auch anders als exportstarke Nationen, wie etwa Österreich oder Deutschland: in fast allen Lagern, ob SP-Regierung oder konservative Opposition, wird eine Portion Wirtschaftsprotektionismus gefordert, der (zu) starke Euro als Exporthindernis gebrandmarkt, die Konkurrenz von Billig-Handwerkern aus Osteuropa beklagt und mit den sparpolitischen Auflagen Brüssels gehadert. Für was soll also diese EU gut sein, die von allen zumindest als Mit-Ursache für Frankreichs Verhängnis kritisiert wird, fragen sich die Franzosen. Für nichts, antwortet Marine Le Pen.
Gleichzeitig für und dagegen
Ganz so klar erscheint die Sache aber auch nicht: ein und die selbe Umfrage zeigt, dass eine Mehrheit mit dem Euro unzufrieden ist (54 Prozent), aber eine noch breitere Mehrheit (73 Prozent) den Euro behalten will. Nur 22 Prozent finden die EU-Mitgliedschaft „für Frankreich schlecht“. Deshalb hält Le Pen ihren ausgefeilten EU-Austrittsplan, den sie kürzlich in einem KURIER-Interview offenbarte, im französischen Wahlkampf unter Verschluss.
Ansonsten aber hat die FN-Chefin einen offenen Boulevard vor sich, zumal die regierende SP seit ihrer Niederlage bei den Kommunalwahlen im März entkräftet und seit dem Amtsantritt des neuen Premiers Manuel Valls verdattert wirkt. Valls hat eine steuerpolitische Wende zugunsten der Unternehmer und eine Verschärfung der Sparpolitik angekündigt, die der Überzeugung etlicher SP-Politiker und ihrer Anhänger krass zuwider läuft. Zum Ausgleich hat Valls in aller Eile einen Steuerabbau für Niedrigverdiener beschlossen, diese Ankündigung ist aber verpufft.
Im Endeffekt dürfte das Ausmaß der Wahlenthaltung über das Abschneiden von Le Pen entscheiden: in abgeschlagenen Industrierevieren, verarmten Provinzstädten und verängstigten Speckgürteln, wo die FN üblicherweise ihre meisten Stimmen bekommt, könnte dieser Urnengang der Wahlmüdigkeit zum Opfer fallen.
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