EU/Türkei: Ein Zickzackkurs über Jahrzehnte
Es beginnt am 12. September 1963: EU-Kommissionspräsident Walter Hallstein reist zur Unterzeichnung des ersten Abkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eigens nach Ankara, um dort eine wichtige Rede zu halten. "Wir sind heute Zeugen eines Ereignisses von großer politischer Bedeutung. Die Türkei gehört zu Europa." Die Ansprache wird mit heftigen Applaus unterbrochen, dann präzisiert der CDU-Politiker den tieferen Sinn dieses Satzes: "Die Türkei gehört zu Europa. Das heißt, dass sie ein verfassungsmäßiges Verhältnis zu der Europäischen Gemeinschaft herstellt."
Was Hallstein damals formulierte, gilt noch heute als rhetorisches und inhaltliches Leitmotiv europäischer Politik vis-à-vis der Türkei: Die prinzipielle Beitrittsfähigkeit des islamischen Landes wird anerkannt, die Mitgliedschaft aber von der weiteren Entwicklung der Türkei abhängig gemacht.
Mitte der 1960er-Jahre lässt die Kommission eine aufwendige Dokumentation drehen. "Die Türkei – Europa jenseits des Bosporus", der Titel suggeriert, dass sich die Türkei ganz im Geiste des Gründervaters Atatürk laizistisch und demokratisch entwickeln wird und sich kulturell am Westen orientiert. "Europäisch" wird nicht weiter definiert, die Türkei ist schon Mitglied von UNO, Europarat und NATO.
Aufgeladene Debatte
Die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei zu Europa, die heute zu heftigen und emotional aufgeladenen Diskussionen führt, wird lange negiert. Den europäischen Charakter der Türkei betonen damals vor allem deutsche konservative Politiker. Religiös-kulturelle Aspekte werden nicht thematisiert.
In den späten 1960er-Jahren gewinnen radikale Parteien starken Einfluss auf die türkische Politik, sie lehnen die europäische Integration ab. Jetzt dämmert es den europäischen Regierungen, wie brisant der Fall Türkei ist. Nach dem Militärputsch 1980 suspendiert die Gemeinschaft die Beziehungen zur Türkei bis 1986.
Ankara nähert sich 1987 erneut an die EG an. Die Kommission lehnt den Antrag 1989 aber ab: weder die Türkei noch die EG seien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bereit.
Zehn Jahre später – inzwischen hat die EU 2002 die Kopenhagener Kriterien verabschiedet – erhält die Türkei nach dramatischen Verhandlungen beim EU-Gipfel 1999 in Helsinki den ersehnten Status eines Beitrittskandidaten.
Gegen den Widerstand Österreichs starten 2005 Beitrittsgespräche, 2006 werden sie teilweise ausgesetzt aufgrund der Weigerung Ankaras, die türkischen Flug- und Seehäfen für Waren und Personen aus dem griechischen Teil Zyperns zu öffnen.
Schon damals beklagt die EU-Kommission eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, der Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Rechte für religiöse und ethnische Minderheiten.
Heute ist die EU-Spitze "tief besorgt" über die Ereignisse in der Türkei. Nichts von dem, was ein Beitrittskandidat erfüllen muss, löst die Türkei ein. Die Regierung weigert sich, die Deportationen und die Massaker an Armenier als Völkermord anzuerkennen. Der griechische Teil Zyperns wird nicht als Staat respektiert. Ungelöst ist die Kurdenfrage und die Anerkennung von Minderheiten.
Ökonomischer Turbo
Wirtschaftlich ist die Türkei durch die Zollunion aber stark mit der EU verbunden. Seit 1996 können Waren und Kapital zwischen der EU und der Türkei frei zirkulieren, ausgeklammert bleibt die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer.
Die Flüchtlingskrise ist eine Zäsur, der EU-Deal mit der Türkei gibt den Mächtigen am Bosporus noch mehr Gewicht in Europa.
Viele EU-Bürger lehnen die Beitrittsperspektive der Türkei ab. Umfragen vor dem Putschversuch und dem Ausnahmezustand lehnen im EU-Schnitt 70 Prozent der Befragten einen Beitritt ab, in Deutschland sind es derzeit mehr als 80 Prozent. Vom selbstgesteckten Ziel der Türkei, bis 2023, dem 100. Jahrestag der Republiksgründung, die Aufnahme in die EU zu schaffen, ist das Land sehr weit entfernt.
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