EU-Kommissar Hahn: "Sorge um sozialen Zusammenhalt"

EU-Kommissar Hahn besuchte 2016 mehrmals Flüchtlingslager.
EU-Kommissar warnt vor Populisten und neuer Terror-Bedrohung. Türkei-Kontakte will er nicht kappen.

KURIER: Herr Kommissar, die Türkei ist ein autoritärer Staat, die EU schaut zu. Appeasement-Politik hat bisher nichts bewirkt. Warum geht die EU nicht entschiedener vor?

Johannes Hahn: Ich definiere das Verhältnis zur Türkei als Dialog mit einem Land, das Nachbar der EU ist. Die Türkei ist in einer höchst instabilen Lage durch Terrorismus, die Nachwehen des versuchten Putsches sowie durch negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit. Die Wirtschaft erodiert. Angesichts dieser Zustände ist es in unserem ureigensten Interesse, einen Beitrag zur Stabilisierung der Türkei zu leisten. Und das geht nur durch Dialog. Es gibt Bereiche, wo wir durchaus erfolgreich zusammenzuarbeiten, wie etwa in der Migrationsfrage. Die Zivilgesellschaft in der Türkei ist uns ein Anliegen, umso wichtiger ist es, die Gesprächskanäle offenzuhalten. Realpolitik heißt, mit Menschen zu reden.

Warum will die EU die Zollunion mit der Türkei vertiefen?

Ein Teil der Bemühungen ist, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu unterstützen. Die Erweiterung der Zollunion (um Dienstleistungen und Landwirtschaft, Anm.) hat die Kommission positiv bewertet, es liegt nun am Rat, der Kommission ein Verhandlungsmandat zu geben. Die Ausweitung der Zollunion ist im beidseitigen Interesse. Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Türkei, umgekehrt ist die Türkei der fünftgrößte Handelspartner der EU. 600.000 Jobs in der EU gehören zu türkischen Unternehmen.

Österreich wurde zuletzt von der Türkei heftig attackiert. Könnte es das Mandat für die Zollunion verhindern?

Ein Mandat für die Ausweitung der Zollunion ist letztlich eine politische Entscheidung. Es wird dieses Mandat nur geben, wenn die Türkei in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit alle EU-Länder gleich behandelt. Es ist keine Empfehlung für einen Beitritt oder auch nur für eine Vertiefung der Partnerschaft, einen Partner, wenn er anderer Meinung ist, als rassistisch zu bezeichnen.

Außenminister Kurz blockierte kürzlich eine Türkei-Erklärung. Finden Sie das richtig?

Persönlich halte ich die Debatte für künstlich. Seit dem versuchten Putsch liegen die Beitrittsverhandlungen de facto auf Eis. Der Außenminister hat sich im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler auf den einstimmigen Beschluss des Nationalrates berufen. Die Erklärung der EU-27 hat in vielerlei Hinsicht den Kritikpunkten Österreichs Rechnung getragen.

Rechnen Sie mit der Einführung der Todesstrafe in der Türkei?

Ich nehme nicht an, dass die Türkei jemals die Todesstrafe einführen wird, weil die Konsequenzen bekannt sind. Merkwürdig ist, dass einzelne türkische Politiker europäische Politiker beschimpfen und gleichzeitig behaupten, sie wollen den EU-Beitritt. Das ist ein Widerspruch. Die EU und die Türkei haben vielfältige Beziehungen: von der Förderung der Wirtschaft über die Bekämpfung des internationalen Terrorismus bis zur Migrationspartnerschaft. Die Beitrittsverhandlungen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt am wenigsten aktuell.

Platzt der EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei?

Nein. In der praktischen Abwicklung funktioniert er. Das finanzielle Angebot der EU ist sehr großzügig. Vor der Vereinbarung mit der Türkei im März 2016 kamen in den Wintermonaten 740.000 Flüchtlinge. Von April bis heute sind es ca. 20.000.

Ankara pocht auf die Visa-Freiheit, hat aber die Kriterien, vor allem die Reform des Anti-Terrorgesetzes, noch nicht erfüllt. Rechnen Sie bald damit?

Alle dafür notwendigen 72 Kriterien wurden mit der Türkei vor drei Jahren vereinbart. Zu behaupten, die EU hätte einseitig Kriterien festgelegt, stimmt einfach nicht. Die Ukraine und Georgien haben die Kriterien auf Punkt und Beistrich erfüllt. Es gibt gleiche Maßstäbe für alle. Die Türkei hat mehrfach angekündigt, auch in den vergangenen Wochen, Vorschläge zu den ausstehenden Benchmarks, besonders der Anpassung der Terrorgesetzgebung, zu übermitteln. Bis dato ist nichts gekommen.

Hat die Türkei-Debatte einen negativen Einfluss auf die EU-Annäherung der Balkanländer?

EU-Kommissar Hahn: "Sorge um sozialen Zusammenhalt"
Buchpräsentation " So kann Europa gelingen" von Margaretha Kopeinig und Helmut Brandstätter. Wien 02.12.2014.
Keineswegs. Für die Türkei haben wir ein Mandat für ergebnisoffene Verhandlungen. Für die Länder des Westbalkans gibt es dagegen eine konkrete Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft.

Wie groß ist die Gefahr, dass der radikale Islamismus und Terror in Europa zunehmen?

Wir stehen vor einer völlig neuen Bedrohungsstruktur. Früher waren Prominente Ziel von Anschlägen, heute kann es jeden treffen. In der EU – und darüber hinaus – müssen Kooperation und Datenaustausch intensiviert und verbessert werden. Die Kommission hat gerade einige Vorschläge zur effizienteren Terrorbekämpfung vorgelegt. Wichtig ist auch die Prävention: Je besser die wirtschaftliche Situation ist, je mehr junge Leute Perspektiven in ihren Heimatländern haben, desto weniger sind sie für radikale Entwicklungen anfällig. Daran arbeite ich im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Die jüngst beschlossenen Migrationspartnerschaften packen dieses Problem an den Wurzeln an.

Zuletzt hat es in Österreich eine Debatte über die Indexierung der Familienbeihilfe gegeben. Warum lehnt die EU-Kommission die Indexierung ab?

Hintergrund der Kommissionsentscheidung ist, dass es sich um weniger als ein Prozent der Sozialleistungen handelt, die an EU-Ausländer für Kinder bezahlt werden. Das heißt, der finanzielle Aufwand der Indexierung wäre größer als der Nutzen. Ein EU-Mitgliedsland kann viele Dinge selbst lösen und braucht nicht immer eine europaweite Regelung zu fordern.

Das heißt, die Kriterien für die Vergabe von Familienbeihilfe an Kinder im EU-Ausland könnte Österreich selbst verschärfen?

So ist es. Jedenfalls so, dass die Auszahlung an den De-facto-Aufenthalt des Kindes gebunden ist. Es müsste in dem Land leben, in dem mindestens ein Elternteil arbeitet.

Eine andere Frage: Warum ist die Anti-EU-Stimmung so stark?

Das sehe ich nicht. Seit dem Brexit-Votum steigt die EU-Zustimmung in den meisten EU-Ländern. Die jüngste, vor Weihnachten publizierte Eurobarometer-Umfrage bestätigt diesen Trend. Aber es ist nicht zu leugnen, dass Populisten immer mehr Zulauf erhalten. In einer globalen Welt kann man innerhalb der EU besser überleben als alleine. Nationale Politiker müssten diesen Sachverhalt genau so vermitteln. Sie führen aber immer nur einen Abwehrkampf gegenüber "Brüssel". Wir brauchen mehr Aufrichtigkeit und Pragmatismus. Der zunehmende Populismus ist nicht nur dem EU-Projekt, sondern letztlich dem gesamten gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zuträglich.

Was müssen Politiker dagegen unternehmen?

Die konstruktiven Kräfte müssen sich den Populisten stellen und sie entzaubern. Denn Populisten haben keine Lösungen, sondern verursachen nur Probleme, indem sie spalten und polarisieren. Am Ende dieses Jahres mache ich mir über den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft große Sorgen. Das zu ändern wird die zentrale Herausforderung für uns alle im Jahr 2017 sein.

Sechs Milliarden.Bei einem EU/Türkei-Gipfel am 7. März bietet Ankara die Rücknahme aller Flüchtlinge an, die neu auf den griechischen Inseln ankommen. Für jeden abgeschobenen Syrer soll ein anderer Syrer, der schon in der Türkei ist, von den EU-Staaten aufgenommen werden. Am 18. März nehmen die EU-Staaten das Angebot aus Ankara an. Für türkische Bürger soll dafür ab Juni eine Einreise ohne Visum in die EU möglich sein. Zudem sollen die Beitrittsverhandlungen beschleunigt werden. Dazu kommt ein finanzielles Angebot der EU an die Türkei. Bis Ende 2017 gibt es drei Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge (700 Mio. sind ausbezahlt; 2,2 Mrd. an Projekte zugeteilt). Bis Ende 2018 kann die Summe auf sechs Milliarden verdoppelt werden.

Ende Juni wird mit Zustimmung aller EU-Staaten ein weiteres Beitrittskapitel eröffnet. Derzeit wird nur auf technischer Ebene verhandelt, neuen Kapitel werden nicht eröffnet. Von insgesamt 35 Kapitel sind derzeit 15 geöffnet, eines wurde unter Österreichs EU-Vorsitz 2007 vorläufig geschlossen. Ein EU-Beitritt der Türkei ist erst möglich, wenn die Verhandlungen über alle Kapitel abgeschlossen sind. Manche Länder, auch Österreich, haben Referenden über den Beitritt angekündigt. Auch das Europa-Parlament muss zustimmen.

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