EU-Grenzschützer wissen nicht, wie viele Flüchtlinge kommen
Seit Monaten ist die Politik auf allen Ebenen mit der Verteilung und Versorgung von Tausenden und Abertausenden Flüchtlingen befasst.
Was die Sache erheblich erschwert: Niemand kann abschätzen, wie viele Flüchtlinge noch kommen werden.
Was noch dazu kommt: Es scheint auch keine allzu genauen Zahlen darüber zu geben, wie viele bis jetzt schon gekommen sind.
710.000 Flüchtlinge seien in den ersten neuen Monaten des Jahres in die EU eingereist, heißt es im jüngsten Bericht der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Die Meldung fand Eingang in viele Schlagzeilen – das Kleingedruckte blieb hingegen weitgehend unbeachtet. Dabei lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Denn Frontex zählt nicht Personen – sondern Grenzübertritte.
Das ist in der Praxis ein gravierender Unterschied. Vor allem, seit die Balkan-Route zum wichtigsten Fluchtweg geworden ist.
Eine typische Route: Von der Türkei nach Griechenland, über Mazedonien nach Serbien, weiter nach Ungarn oder Kroatien, von dort über Österreich nach Deutschland.
Doppelt gezählt
Wer diese Route nimmt, verlässt das EU-Gebiet zwischendurch (siehe Grafik) – und findet so zwei Mal Eingang in die Frontex-Statistik: Beim Überschreiten der EU-Außengrenze von der Türkei nach Griechenland – und dann noch einmal beim Überschreiten der EU-Außengrenze von Serbien nach Ungarn oder Kroatien.
Frontex spricht das in einer "Klarstellung" zum jüngsten Bericht auch offen an: "Das heißt, dass eine große Zahl jener, die gezählt wurden, als sie in Griechenland ankamen, noch einmal gezählt wurden, als sie die EU ein zweites Mal in Ungarn oder Kroatien betreten haben."
Heißt das, dass bisher viel weniger Flüchtlinge in die EU gekommen sind als angenommen? Möglich.
Vor allem aber heißt es, dass offenbar nicht einmal die für den Grenzschutz zuständige EU-Behörde verlässliche Zahlen darüber hat.
"In Größenordnungen"
Zumindest die innerösterreichischen Zahlen sollten belastbar(er) sein: Laut Innenministerium haben alleine seit Anfang September 355.000 Flüchtlinge Österreich betreten. Lückenlos registriert werden sie zwar nicht; aber immerhin "nach Möglichkeit und in Größenordnungen gezählt", wie Ministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck sagt. Gerade bei größeren Gruppen, sagt Grundböck, haben der "humanitäre Aspekt" und ein geordneter Ablauf Vorrang vor der Registrierung.
Inoffizielle Zahlen
Die wohl besten Einschätzungen, wie viele demnächst kommen (könnten), kommen vom Bundesheer bzw. dessen Nachrichtendiensten. Inoffiziellen Informationen aus Sicherheitskreisen zufolge dürften derzeit jeweils rund 6000 Flüchtlinge in Serbien und Kroatien Station machen, dazu 17.000 in Slowenien.
Wir müssen dieses Verbrechen beenden", sagt Spyros Galinos. Der Grieche ist Bürgermeister der Insel Lesbos und hat am Samstag in einem Interview mit der Athener Zeitung Kathimerini gefordert, dass die aus Syrien kommenden Flüchtlinge mit einem geregelten Fährbetrieb sicher von der Türkei nach Griechenland gebracht werden.
So lange die Europäische Union nicht den geeigneten Druck auf die Türkei ausübe, den Flüchtlingszuzug zu kontrollieren, sei ein unbürokratischer Fährbetrieb die einzige Möglichkeit, um das tägliche Sterben in der Ägäis zu verhindern.
"Die Leichenhallen der Insel sind voll", wird Galinos in dem Interview zitiert.
Der Appell des griechischen Lokal-Politikers wurde am Samstag – einmal mehr – dramatisch durch die aktuellen Ereignisse verstärkt: Laut Küstenwache soll vor Lesbos ein Boot mit insgesamt 150 Menschen gekentert sein. Starker Wind sorgte für hohe Wellen, die Rettungsmannschaften der Küstenwache sowie einzelne Fischer suchten im Meer nach den Verunglückten.
8700 Menschen am Tag
Die Herausforderung an Politik und Gesellschaft wird vorerst nicht kleiner, im Gegenteil: Der Andrang steigt.
In der griechischen Hafenstadt Piräus sind am Samstag innerhalb von nur 24 Stunden knapp 8700 Flüchtlinge und Migranten von den Ägäis-Inseln angekommen. Samstagfrüh haben Fähren 2682 Menschen von den Inseln Lesbos und Chios gebracht, am Freitag waren es gut 6000 Fliehende gewesen. Die Menschen wollten mehrheitlich nach West-Europa, heißt es bei den griechischen Behörden.
Die Regierung in Athen plant, im Rahmen der Vereinbarungen mit den anderen Staaten der EU bis Jahresende Aufnahmelager für rund 30.000 Menschen in Betrieb zu nehmen.
Zudem sollen 20.000 Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht werden. Die Mieten sollen aus dem Budget der Union subventioniert werden.
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