EU-Gipfel: Eilige Suche nach dem Sündenbock
Gewöhnlich bleibt Jean-Claude Juncker ruhig: Doch als er hörte, dass Österreich täglich nur mehr 80 Asylanträge behandelt und zuvor eine Obergrenze eingeführt hat, platzte dem Kommissionspräsidenten der Kragen. "So nicht", sagte er und wies seine Juristen an, rechtliche Schritte einzuleiten.
Ein bissiger Brief von Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos an Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat es in sich: "Eine solche Politik, wie sie Österreich betreibt, ist klar inkompatibel mit europäischem und internationalem Recht", heißt es im Schreiben. Die jährliche und tägliche Asyl-Obergrenze verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Konvention und Artikel 18 der Grundrechte-Charta der EU. "Österreich hat die rechtliche Verpflichtung, jeden Asylantrag zu akzeptieren, der auf seinem Territorium oder an seiner Grenze gestellt wird." Außerdem kritisiert die EU-Behörde, dass Kontingente für den Transit von Flüchtlingen (Mikl-Leitner nannte 3200, die nach Deutschland gehen) nicht zulässig seien. Schutzbedürftige dürften nicht in das Land ihrer Wahl weiterreisen.
In der Kommission wird gegenüber dem KURIER darauf verwiesen, dass die Bundesregierung selbst ein Rechtsgutachten zu ihren nationalen Maßnahmen in Auftrag gegeben habe. Im März soll das Ergebnis vorliegen.
Läuft ins Leere
Einer der Gutachter, der Innsbrucker Professor Walter Obwexer, las den Brief mit Befremden. "Grosso modo gehen die Vorwürfe ins Leere", sagte er zur APA.
Darauf wollte man in der Kommission nicht eingehen, nur so viel: "Ein Rechtsstreit bahnt sich an, der beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg landen könnte."
Mit dem Vorgehen gegen Österreich startet die Kommission ein Exempel und macht damit einen Sündenbock für das Versagen einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik aller 28 namhaft.
Der Sündenfall des Durchwinkens trifft aber nicht nur auf Österreich zu, sondern auf Ungarn, mehrere Balkanländer und auf Griechenland. Diese monatelange Praxis eines Rechtsbruches wurde beim EU-Gipfel angeprangert. Das Ziel sei, die normale Funktionsweise des Schengen-Raumes herzustellen, steht im Entwurf der Abschlusserklärung. In der Realität heißt das Folgendes: Drittstaaten-Angehörige, die die Einreise-Kriterien nicht erfüllen und keinen Asylantrag gestellt haben, obwohl das möglich gewesen wäre, werden an den Außengrenzen zurückgewiesen.
Dahinter steht Absicht: Indem jedes Land künftig genau prüft, wer einreisen darf, wird der Rückstau auf der Balkan-Route und letztendlich in Griechenland größer. Ein "Domino-Effekt" mit einer "humanitären Katastrophe" entsteht. Griechenland trifft es dann voll.
Das Szenario ist gewollt, sagen EU-Insider, um die faire Aufteilung der Flüchtlinge in der EU zu erzwingen. Kommissionspräsident Juncker beharrt weiter darauf, die beschlossene Verteilung von 160.000 Asylwerbern aus Hellas und Italien auf andere EU-Staaten durchzusetzen.
Merkel profitiert
Von diesem Plan würde Kanzlerin Angela Merkel profitieren. Der Flüchtlingsstrom käme zum Erliegen, Merkel bräuchte keine Grenzkontrollen einzuführen oder ein Limit für die Aufnahme von Asylwerbern zu setzen.
Bundeskanzler Faymann hat die verschärfte Flüchtlingspolitik Österreichs gestern verteidigt. "Österreich kann man nach 90.000 Flüchtlingen, die wir 2015 aufgenommen haben, nicht vorwerfen, unsolidarisch zu sein. Dass wir sagen, jetzt kommen auch die anderen dran, ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht", sagte der Kanzler und fügte hinzu, dass sich Österreich keiner gemeinsamen Lösung der Flüchtlingsfrage entziehen werde.
Innenministerin Mikl-Leitner verwies auf die deutsche Praxis an der Grenze. "Tageskontingente einzuführen war vor Monaten für Deutschland rechtskonform und ist es selbstverständlich auch jetzt für Österreich."
Auch ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner findet an Obergrenzen für Asylwerber nichts Ungesetzliches. Österreich sei zu nationalen Schritten gezwungen, weil es "keine Sicherung der EU-Außengrenze gibt". Skeptisch sieht er die Gruppe der Willigen, die sich auf Einladung von Faymann gestern treffen hätte sollen. Die Runde wurde abgesagt, weil Türkeis Premier wegen des Attentates in Ankara nicht nach Brüssel kam. EU-Parlamentschef Martin Schulz sprang Österreichs gestern zur Seite. Die Ankündigung zu Tageskontingenten für Flüchtlinge kritisierte er zwar, zugleich betonte er, dss ein rechtliches Vorgehen der EU-Kommission gegen Wien "das Problem nicht löst".
Der Pakt der EU mit der Türkei, den Flüchtlingsstrom zu bremsen, das hat für Bundeskanzlerin Merkel weiterhin "Priorität", ebenso wie eine gemeinsame europäische Migrationspolitik. "Wir wollen eine Lösung der 28."
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