Minimalkompromiss: EU-Gipfel einigt sich auf 90 Milliarden für Ukraine
Die EU-Staats- und Regierungschefs haben in den frühen Morgenstunden einen notdürftigen Kompromiss zur künftigen Finanzierung der Ukraine gefunden. "Die Entscheidung, der Ukraine für den Zeitraum 2026-27 90 Milliarden Euro an Unterstützung zu gewähren, wurde genehmigt", teilte EU-Ratschef Antonio Costa auf X in Brüssel mit. Diese soll zunächst über eine gemeinsame Kreditaufnahme erfolgen. Damit ist der Plan, Russlands eingefrorene Milliarden als Absicherung für einen Kredit zu nutzen gescheitert.
Belgien, wo der größte Teil dieses Geldes liegt, blieb bis zu letzt bei seinem "Nein". Weil auch Ungarn, die Slowakei und Tschechien nicht mitmachen, müssen 24 von 27 EU-Staaten diesen Kredit unterschreiben, der das aktuelle EU-Budget belastet. Ein Minimalkompromiss und ein Desaster für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die den Plan mit Russlands Milliarden über Monate an ihre Fahnen geheftet hatte.
Auch für den deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz, der bis zuletzt auf einer Verwendung der russischen Milliarden beharrt hatte, ist das ein herber Rückschlag. Wie genau, der in den Morgenstunden beschlossene Kredit-Deal funktionieren soll, muss erst ausgearbeitet werden. Klar ist, das Geld wird durch Reserven aus dem aktuellen EU-Budget abgesichert. Die drei Gegner hatten zumindest dem zugestimmt, wenn sie dafür von allen Haftungen ausgenommen würden.
Österreichs Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) begrüßte das Ergebnis. Stocker betonte, die beschlossenen 90 Milliarden Euro an gemeinsamer Kreditaufnahme bedeuten "keine unmittelbare Belastung für den österreichischen Steuerzahler" aus dem Budget. Der Kanzler bezeichnete es als "erfreulich, dass es uns gelungen ist, für die Ukraine diese Unterstützung zur Verfügung stellen zu können". Das heiße, die Finanzierung für die Ukraine für die Jahre 2026 und 2027 sei wie versprochen sichergestellt.
Auch Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ) geht gemäß bisher vorliegenden Informationen davon aus, dass die Verständigung keine Auswirkung auf das österreichische Budget haben wird. Er werde das aber noch im Detail prüfen, sobald die Rechtstexte vorlägen.
Merz: Klares Signal an Putin
Merz schrieb auf X: "Die Ukraine erhält, wie von mir vorgeschlagen, ein zinsloses Darlehen in Höhe von 90 Milliarden Euro. Dies sendet ein klares Signal aus Europa an Putin: Dieser Krieg wird sich nicht lohnen. Wir werden die russischen Vermögenswerte einfrieren, bis Russland die Ukraine entschädigt hat."
Lob, aber auch Spott aus Russland
Russland begrüßt den von der EU gefundenen Kompromiss zur Finanzierung der Ukraine. "Recht und Vernunft" hätten gesiegt, erklärte der Sondergesandte des russischen Präsidenten Wladimir Putin für Investitionen und Zusammenarbeit, Kirill Dmitriew, auf X. "Schwerer Schlag für die EU-Kriegstreiber unter der Führung der gescheiterten Ursula - die Stimmen der Vernunft in der EU haben die illegale Verwendung russischer Reserven zur Finanzierung der Ukraine verhindert", schriebt Dmitriew in Richtung Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen.
Paris und Rom für ursprüngliches Modell nicht bereit
Die Vorschläge zur Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögen müssten laut EU-Diplomaten noch weiter ausgearbeitet werden. "Nach langwierigen Diskussionen ist klar, dass die Reparationsdarlehen noch mehr Arbeit erfordern, da die Verantwortlichen mehr Zeit benötigen, um die Details zu prüfen", hieß es.
Das ursprüngliche Finanzierungsmodell scheiterte nach Angaben von Diplomaten, weil unter anderem Paris und Rom nicht bereit waren, die notwendigen Mittel für den von Belgiens Regierungschef Bart De Wever geforderten Schutzmechanismus bereitzustellen. Er wollte garantiert bekommen, dass alle Risiken, die sich aus der Nutzung der russischen Gelder ergeben könnten, vollständig gemeinschaftlich abgesichert werden.
Belgien hatte Bedenken
Die belgische Regierung sah unter anderem die Gefahr, dass Russland Vergeltung gegen europäische Privatpersonen und Unternehmen übt und etwa Enteignungen in Russland vornimmt. Vor allem fürchtet sie dabei auch um die Existenz des Finanzinstituts Euroclear, das den Großteil der in der EU festgesetzten russischen Vermögenswerte verwaltet.
De Wever zeigte sich nach dem Gipfel aber zufrieden. "Die Ukraine hat gewonnen, Europa hat gewonnen, die finanzielle Stabilität hat gewonnen", sagte er. "Hätten wir Brüssel heute gespalten verlassen, hätte Europa seine geopolitische Bedeutung eingebüßt. Das wäre eine totale Katastrophe gewesen." Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erschien die nun gefundene Lösung als "die realistischste und praktikabelste".
Eine gemeinsame Schuldenaufnahme über den EU-Haushalt galt lange als sehr unwahrscheinlich, weil dafür ein einstimmiger Beschluss der 27 EU-Staaten nötig ist. Die russlandfreundliche Regierung in Ungarn hatte dies ausgeschlossen. Ungarn stimmte der Einigung dann aber ebenso wie die ebenfalls der Ukraine-Hilfe gegenüber kritisch eingestellten Länder Slowakei und Tschechien zu. Dafür sind alle drei Länder dem Beschluss zufolge von eventuell anfallenden Kreditrückzahlungen ausgenommen.
Russische Gelder bleiben eingefroren
Mit der Lösung sei sichergestellt, dass die eingefrorenen russischen Vermögen weiter eingefroren blieben und auch dazu dienen könnten, dass die Rückzahlung dieses Darlehens aus diesen erfolgen könne, sagte Stocker. "Es ist eine sehr gute Lösung, die hier gefunden wurde", so der Bundeskanzler. "Wir haben versprochen, dass wir liefern werden und die Europäische Union hat gezeigt, dass sie entscheidungsfähig ist und auch liefern kann."
Die eingefrorenen russischen Staatsguthaben in der EU über rund 210 Milliarden Euro würden so lange immobilisiert bleiben, betonten sowohl Merz als auch Costa laut Reuters. Deshalb müssten die EU-Staaten letztlich nicht für den Kredit aufkommen. Man habe damit die Reihenfolge der Finanzierung vertauscht, sagte Merz. Die direkte Nutzung der russischen Staatsvermögen habe sich in den sechsstündigen Beratungen in Brüssel als zu kompliziert erwiesen.
Auf 90 Milliarden Euro habe man sich aufgrund des Bedarfs geeinigt, dieser sei für zwei Jahre in diesem Umfang festgelegt worden. Die Ausnutzung des Darlehens werde nicht unmittelbar 90 Milliarden ausmachen, sondern sukzessive über zwei Jahre erfolgen. Die Inanspruchnahme dieses Darlehens sei gedeckt durch den Haushalt der Europäischen Union, betonte Stocker: "Das heißt, nicht durch den österreichischen Haushalt oder durch den Haushalt eines Mitgliedslandes, sondern durch den europäischen Haushalt."
"Viele Risiken zu bedenken"
Die von vielen EU-Staaten favorisierte, aber rechtlich umstrittene und von Belgien blockierte Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögen wurde vom Gipfel nicht beschlossen. "Wir haben eine Modifikation vorgenommen, weil viele Risiken natürlich zu bedenken waren und auch bei diesen Risiken verschiedene Ansichten bestanden haben", so Stocker. Das Ziel sei, dass Frieden erreicht werde, und dass die Ukraine nicht finanziell mit dem Rücken an der Wand diese Verhandlungen führen müsse.
OeNB-Gouverneur Martin Kocher begrüßte die Mittel für die Ukraine. Damit stelle die EU sicher, dass das Land zahlungsfähig bleibt, sagte er am Rande einer Pressekonferenz. Sollte die Europäische Union später auf eingefrorene russische Gelder zugreifen, sei es wichtig, dass dies "rechtlich ganz klar abgesichert ist". Dafür habe die EU nun Zeit gefunden, so der Notenbanker.
Kickl sieht "Verrat an der österreichischen Neutralität"
FPÖ-Chef Herbert Kickl sprach in einer Aussendung von einem "unfassbaren Skandal und historischen Verrat an der österreichischen Neutralität". "Anstatt sich mit aller Kraft für Friedensverhandlungen einzusetzen, gießt diese Verlierer-Koalition weiter Öl in das Feuer des Krieges und macht sich zum Handlanger der Brüsseler Kriegstreiber", so Kickl.
Besonders perfide sei die Argumentation, dass dieser Kredit "keine unmittelbare Belastung für den österreichischen Steuerzahler" bedeute. Kickl sieht darin eine bewusste Täuschung der Bevölkerung, denn die EU habe nur das Geld ihrer Mitgliedsstaaten und derer Bürger. Nach Ansicht von Kickl ist es ein Versäumnis von Stocker, dass sich Österreich sich so wie Ungarn, die Slowakei und Tschechien "diesem Schuldenwahnsinn entzogen" habe.
Macron für Aufnahme von Gesprächen mit Kreml-Chef Putin
Nach der Einigung hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Gespräche mit Kreml-Chef Wladimir Putin ins Spiel gebracht. "Ich denke, es wird wieder sinnvoll sein, mit Wladimir Putin zu sprechen", sagte Macron am Freitag. "Ich glaube, dass es in unserem Interesse als Europäer und Ukrainer liegt, den richtigen Rahmen zu finden, um diese Diskussion wieder aufzunehmen", fuhr er fort.
Andernfalls werde untereinander mit Verhandlungsführern diskutiert, die alleine mit den Russen verhandelten, sagte der französische Präsident. Dies sei nicht optimal.
Der US-Sondergesandte Steve Witkoff und US-Präsident Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner hatten zuletzt Gespräche mit Vertretern Russlands auf der einen Seite und Gespräche mit Vertretern der Europäer und der Ukraine geführt. Macrons letztes Gespräch mit Putin war im Juli, damals ging es vor allem um das iranische Atomprogramm.
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