"Gefahr, dass Schengen nicht überlebt"

Nicht nur Rechtsradikale sind im Osten Europas gegen Flüchtlinge.
EU-Experte Stefan Lehne erklärt, warum osteuropäische Länder nicht solidarisch sind.

Die mangelnde Solidarität der Partner innerhalb der EU macht Angela Merkel ratlos. "Bin ich überzeugt von einem solidarischen Europa, ja oder nein?", fragte die deutsche Kanzlerin rhetorisch nach dem EU-Gipfel der Vorwoche. Und gab selbst die Antwort: "Letztendlich verstehe ich nicht, warum sie so hart in dieser Flüchtlingsfrage reagieren." Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Rumänien lehnen eine faire Aufteilung der Flüchtlinge ab. Polen und die Balten zweifeln stark.

Stefan Lehne vom renommierten Thinktank Carnegie-Europe in Brüssel erklärt das Verhalten mit einem historischen Argument. "Die Länder sind – bedingt durch ethnische Säuberungen im Zweiten Weltkrieg – künstlich zu homogenen Gesellschaften geworden. Danach existierten sie Jahrzehnte in Isolation, es gab sehr wenig Begegnungen mit Ausländern." Fremd aussehende Menschen mit anderer Religion, etwa Muslime, sind für Osteuropäer "ein großer Schock. Globalisierung hat hier noch nicht stattgefunden", sagt der ehemalige österreichische Spitzendiplomat zum KURIER.

Auch nach dem EU-Beitritt 2004 (Rumänien und Bulgarien kamen erst 2007 zur EU) änderte sich kaum etwas an der Einstellung osteuropäischer Gesellschaften. "Sie haben Solidarität in ihre Richtung erwartet, umgekehrt ist ihr Entgegenkommen sehr begrenzt. Sie erwarten Begünstigungen und nicht Flüchtlinge."

Permanente Quote

Lehne weist darauf hin, dass auch im ehemaligen Ostdeutschland die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen viel geringer ist als im Rest des Landes. "Die Ablehnung ist dort am größten, wo es am wenigsten Flüchtlinge gibt."

Für die Verteilung von 160.000 Asylwerbern hat die EU eine fixe Quote beschlossen (Mehrheitsbeschluss im Rat der Innenminister im September). An diese Quote müssen sich auch die Widersacher halten, "das ist eine verbindliche Entscheidung". Wenn nicht, gibt es gegen sie ein Vertragsverletzungsverfahren.

Bei diesen 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien, die es fair zu verteilen gilt, wird es nicht bleiben. Deutschland, Österreich und einige andere Länder wollen deswegen eine permanente Quote, die es in der EU noch nicht gibt. "Es wird nicht sehr leicht sein, das Projekt umzusetzen", gibt Lehne zu, "auch wenn Deutschland die Quote braucht." Vor allem in Bezug auf das Resettlement (Verteilung von Flüchtlingen aus Herkunftsregionen, z. B. Türkei, Jordanien) sei die permanente Quote notwendig. Offen ist, wie Flüchtlinge auf Länder verteilt werden, in denen sie nicht bleiben wollen.

Jene Staaten, die es bisher ablehnen, Flüchtlinge aufzunehmen, "werden sich bewegen müssen", stellt Lehne fest. "Es ist nicht akzeptabel, dass sie sich verweigern." Der EU-Experte meint, dass die Flüchtlingskrise eine "noch größere Bedrohung für die EU ist als die griechische Schuldenkrise. Die Gefahr ist gegeben, dass Schengen nicht überlebt, und dass die politische Instabilität größer wird. Das wäre dann ein massiver Rückschlag für die EU."

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