EU eröffnet Grundrechtsverfahren gegen Polen

Frans Timmermans könnte Spitzenkandidat für die Sozialdemokraten bei der Europawahl werden.
Das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags ist bisher noch nie angewandt worden. Erste Reaktion aus Warschau fällt gelassen aus.

Die EU-Kommission will ein Sanktionsverfahren gegen Polen wegen Gefährdung von Grundwerten der Europäischen Union einleiten. Dies teilte die Brüsseler Behörde am Mittwoch mit. Die EU-Kommission erklärte, sie habe gehandelt, "um die Justiz-Unabhängigkeit in Polen zu verteidigen".

EU-Kommissionsvize Frans Timmermans sagte am Mittwoch in Brüssel: "Nach zwei Jahren kann die Kommission nur schlussfolgern, dass es ein echtes Risiko einer schweren Grundrechtsverletzung gibt."

Es ist das erste Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge in der Geschichte der Gemeinschaft. Grund sind die Justizreformen der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, die aus Sicht der Kommission die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung aushöhlen. Man tue dies nur schweren Herzens, aber es gebe keine andere Option, sagte Timmermans. „Es geht hier nicht nur um Polen, es geht um die gesamte Europäische Union.“

Dialogbereitschaft der Kommission

Allerdings betonte er die weitere Dialogbereitschaft der Kommission. Außerdem gab er klare Empfehlungen an die Regierung in Warschau, wie sie den Konflikt beilegen könne. Sollte sie dem binnen drei Monaten folgen, werde die Kommission erneut beraten, sagte Timmermans. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker teilte auf Twitter mit, dass er Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki für den 9. Januar zum Gespräch eingeladen habe.

Entscheidungen im Verfahren nach Artikel 7 liegen beim Rat der Mitgliedsländer. Nach dem Antrag der Kommission könnten diese mit Vier-Fünftel-Mehrheit feststellen, dass die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der EU besteht. Vorher muss er allerdings die Zustimmung des Europaparlaments einholen, das erst im Januar wieder tagt.

Polnischer Justizminister bleibt gelassen

Polens nationalkonservative Regierung hat die Entscheidung Brüssels für ein Sanktionsverfahren gegen das Land betont ruhig kommentiert. "Ich nehme die Entscheidung mit Gelassenheit zur Kenntnis", sagte am Mittwoch Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro nach dem Beschluss der EU-Kommission.

Ziobro, der durch bereits geltende und teilweise geplante Gesetze weitreichende Befugnisse über die Justiz erhält, wies die Vorwürfe zurück. Er betonte, Polen sei ein rechtsstaatliches Land und werde auf EU-Ebene nur geschätzt, wenn es ein funktionierendes Gerichtswesen habe. Deswegen müsse man die Justizreformen umsetzen. Die PiS argumentiert, der Justizapparat sei seit dem Ende des Kommunismus 1989 nicht reformiert worden und die Richter seien größtenteils korrupt.

Die polnische Regierungspartei hat die angedrohte Verwarnung der EU-Kommission wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit als "politisch motiviert" zurückgewiesen. Die Entscheidung der Brüsseler Behörde, wegen der umstrittenen Justizreform Artikel 7 des EU-Vertrags zu aktivierten, entbehre jeder Grundlage, sagte eine Sprecherin der rechtsnationalen Partei PiS am Mittwoch in Warschau.

"Das ist in unseren Augen eine rein politische Entscheidung", wurde Sprecherin Beata Mazurek von der polnischen Nachrichtenagentur PAP zitiert.

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat die umstrittene Justizreform gegen die massive Kritik der EU-Kommission verteidigt. Die Reform sei notwendig, erklärte Morawiecki am Mittwoch via Twitter. Für Polen sei der Rechtsstaat genauso bedeutsam wie für die Europäische Union, versicherte er. Er trete für einen Dialog in Offenheit und Ehrlichkeit ein.

Die polnische Regierungspartei PiS hatte in den vergangenen Tagen zwei weitere Gesetze durch das Parlament gebracht, mit denen das Oberste Gericht und der Landesjustizrat reformiert werden sollen. Die Unterschrift von Präsident Andrzej Duda fehlte zuletzt noch.

Das Außenamt betonte Polens Bereitschaft zum Dialog. Das Land sei bereit, der EU-Kommission zu allen Prozessen des Gesetzgebungsverfahrens Auskunft zu geben. Bei den Reformen, durch die Kritiker die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr sehen, seien bereits Aufforderungen Brüssels berücksichtigt worden. Die Kampagne gegen Polen beruhe nicht auf Fakten, hieß es weiter. "Das widerspricht der Objektivität europäischer Institutionen und legt einen Schatten über die gute Zusammenarbeit."

Die Regierung will trotz des Verfahrens an den umstrittenen Justizreformen festhalten. "Das sind wir unseren Wählern schuldig", hieß es in der Mitteilung.

Einfluss auf Richter und Gerichte

Rechtsexperten kritisieren, mit der Neuregelung gewinne die PiS Einfluss auf Richter und Gerichte. Die EU-Kommission warnt schon seit Anfang 2016, dass die bereits damals begonnenen Justizreformen in Polen den Rechtsstaat aushöhlen könnten. Die Bundesregierung unterstützt die Linie der Kommission: „Die Kommission hat es sich wirklich nicht leicht gemacht“, sagte ihr Sprecher Steffen Seibert in Berlin. Der Entscheidung sei ein konstruktiver und intensiver Dialog vorausgegangen. Das Verfahren nach Artikel 7 gilt als schärfste mögliche Maßregelung eines Mitgliedsstaats.

Als letzte Konsequenz ist damit die Aussetzung von Stimmrechten möglich. Allerdings sind die Hürden hoch. Sollte der Rat die Gefahr einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit feststellen, wäre dies zunächst mit Empfehlungen an Polen verbunden. Erst im nächsten Schritt könnte der Rat die tatsächliche Verletzung der Rechtsstaatlichkeit festhalten - allerdings nur einstimmig. Da Ungarn sein Veto angekündigt hat, gilt dies als unwahrscheinlich. In dem Fall wäre auch die Aussetzung der Stimmrechte nicht möglich.

Mit Artikel 7 des EU-Vertrags soll sichergestellt werden, dass sich alle EU-Mitgliedstaaten an Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halten. Er sieht bei „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ der Werte als schwerste Sanktion eine Aussetzung der Stimmrechte des Mitgliedstaates vor.
Die Hürden dafür sind allerdings hoch. Das Verfahren sieht vor, dass zunächst offiziell festgestellt wird, dass in Polen die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ von EU-Werten besteht. Dafür wäre im Rat der Mitgliedstaaten eine Vier-Fünftel-Mehrheit erforderlich - das heißt 22 Länder müssten zustimmen.
In einem zweiten Schritt müssten die EU-Partner Polens dann sogar einstimmig feststellen, dass eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der Werte tatsächlich vorliegt. Erst danach könnte mit sogenannter qualifizierter Mehrheit beschlossen werden, die Stimmrechte Polens in der EU auszusetzen. Die qualifizierte Mehrheit würde in diesem Fall die Zustimmung von mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung erfordern.
Das Verfahren nach Artikel 7 ist in der Geschichte der EU noch nie zur Anwendung gekommen. Weil es so schwerwiegende Sanktionen wie einen Stimmrechtsentzug möglich macht, wird es in Brüssel auch als „Atombombe“ bezeichnet. In etlichen EU-Staaten gab es zuletzt Widerstand, es überhaupt in Erwägung zu ziehen. Als Grund gilt auch die Gefahr, dass im Zuge des Verfahrens nicht die erforderlichen Mehrheiten zustande kommen. Die EU könnte dann bei einem wichtigen Thema wie der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit bloßgestellt werden.

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