Estland: Als Russe im früheren Sowjet-Land

Ein Drittel der Bevölkerung ist russisch-stämmig – von selbstbewusst bis isoliert.

Auf dem Bahnsteig am Gleis Eins des Tallinner Bahnhofs flattern kurz vor fünf Uhr nachmittags die blauen Uniformen der Schaffnerinnen im Wind, gellt das Rufen der Lachmöwen, fließen Kindertränen: Eine Mutter versucht mit Gesten ihre kleine Tochter aufzuheitern, die im Arm der Großmutter sich die Nase an der Scheibe des Waggons platt drückt. Die Reise geht in die Provinz südlich von Moskau, zu Verwandten, in die gefühlte Heimat.

Maja, so der Vorname der 30 Jahre jungen Mutter, sieht sich selbst als Russin und Estin. Sie gehört zur russischen Minderheit, die etwa ein knappes Drittel der 1,3 Millionen Einwohner zählenden estnischen Bevölkerung ausmacht, hat den estnischen Sprachkurs bestanden und somit die vollen Bürgerrechte. Wer dies nicht schafft, darf nicht wählen. Der Status dieser großen Gruppe ist Anlass für Moskau, der ehemaligen Sowjetrepublik immer wieder Diskriminierungen vorzuwerfen. Diskriminierung? Die Bankangestellte mag das Wort nicht verwenden, "es hängt von jedem einzelnen ab, wie er sich fühlt". Sie sei hier geboren und fühle sich wohl.

Laufend Zwischenfälle

Für alle mag dies nicht gelten. Immerhin gab es vor zehn Jahren in Tallinn Straßenschlachten der russischen Jugend mit der Polizei, als die Regierung beschloss, ein sowjetisches Denkmal aus dem Zentrum zu verbannen. Im gleichen Jahr wurde das Land, das seit Juli die EU-Präsidentschaft innehat, mit einem Cyberangriff aus den Reihen der russischen Jugendorganisation "Naschi" bedrängt. Seit der Ukraine-Krise 2014 besteht zwischen dem NATO-Land und der Russischen Föderation eine größere Spannung, es kommt immer wieder zu Grenzzwischenfällen.

Junge russischstämmige Wehrpflichtige werden in Estland darum ohne Umschweife von ihren Vorgesetzten auf einen möglichen Verteidigungsfall gegen den östlichen Nachbarn angesprochen. "Sie sind bereit dazu, das Land zu verteidigen", sagt der estnische Reserveoffizier und Journalist Alvar Tisslar mit Nachdruck. Er habe mit vielen russischstämmigen Kameraden darüber gesprochen – natürlich in estnischer Sprache.

"Integration" so glaubt der breitschultrige Fernsehredakteur, der in den Räumen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ERR herumführt, das mit seinen alten Holztüren noch die Patina der Sowjetzeit ausstrahlt, "gelingt hauptsächlich durch Sport." Viele ethnische Esten würden heute mit dem Trikot von Vassiljev Konstantin herumlaufen, einem russischstämmigen Nationalspieler, zwei Mal Fußballer des Jahres, der aktuell in Polen spielt.

"Integration", so meint Jevgeni Zavadski, "klingt für uns Russen wie ein Befehl der estnischen Regierung." Zavadski, Redakteur des russischsprachigen Kanals ETV+, will lieber von Freundschaften sprechen, die zwischen Esten und Russen in letzter Zeit entstanden seien.

Der russischsprachige Kanal wurde vor zwei Jahren innerhalb des ERR mit EU-Geld gegründet, um dem Einfluss der russischen Staatsmedien angesichts der Krim-Annektion etwas entgegen zu setzen. Damals verschärften Rossija 1 und RTR Planeta und weitere im russischsprachigen Baltikum beliebte Sender ihren Ton, Litauen und Lettland ließ sie sperren.

Im Russenviertel

Dabei artikulierte vor allem das ältere Publikum, dass es keine Gegenpropaganda zu den Angeboten der Russischen Föderation wünsche. Die Welt der potenziellen Zuschauer von ETV+ ist jedenfalls rasch zu erreichen. Gegenüber des staatlichen Rundfunkgebäudes fährt der Stadtbus 68 nach Lasnamäe, das mit 100.000 Einwohnern größte Stadtviertel der Hauptstadt. Eine in der Sowjetzeit gebaute Anreihung aus grauen Quadern, wo fast nur Russen wohnen. "Was machen Sie denn bei uns, haben Sie keine Angst? Hier traut sich doch keiner her", fragt Frau Dalina ein wenig gespielt theatralisch, die mit ihrem schweigsamen Mann den Rehpinscher zwischen den Wohnblöcken ausführt. Nach der Unabhängigkeit 1991 seien sie in Estland so etwas wie Außerirdische geworden, meint die Friseuse im mittleren Alter, doch sie habe schließlich den Sprachtest bestanden.

Die Sprachhürde

Diejenigen, die älter sind, schafften sie zumeist nicht – das Estnische ist am Japanischen näher dran, als an den indo-europäischen Sprachen, zu denen auch das Russische gehört. Die Verkäuferin in einer alternativen Drogerie, wo Öle und Tinkturen mit kyrillischer Aufschrift in den Regalen stehen, spricht die Nationalsprache nach eigenen Worten überhaupt nicht und versteht nur einige Wörter. Ihr Pass ist grau, das bedeutet, sie ist staatenlos. Die Erwähnung lässt die Mundwinkel sinken.

Ja, die Älteren seien isoliert, bestätigt sie und bestätigen die Russen in Tallinn, wo die Russischstämmigen insgesamt 35 Prozent ausmachen. Außerhalb ihrer Viertel gebe es wenig Chancen auf Verständigung für sie. Viele Esten verweigern eine Unterhaltung in der slawischen Sprache. Via Facebook könnten ältere Russischstämmige über das Programm von ETV+ diskutieren, wie Zavadski berichtet.

Doch so sehr vernetzt das digital fortschrittliche Estland auch ist, für die betagteren russischen Bewohner scheint ein wichtiger Link in eine größere, weitere Welt immer noch der Zug um 17.03 Uhr nach St.Petersburg und Moskau zu sein, der täglich vom Gleis Eins auf dem Tallinner Bahnhof abfährt.

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