"Er will den Sieg mit Drohungen erzwingen": Medien reagieren auf Putin-Rede

Russian President Vladimir Putin visits Veliky Novgorod
Von der Schweiz bis in die Niederlande: Europas Tageszeitungen gehen mit dem russischen Präsidenten nach der Teilmobilmachung hart ins Gericht.

Am Mittwochnachmittag rief der russische Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung der russischen Armee für den Krieg in der Ukraine aus. Das hat die Stimmung im Land - und auch außerhalb davon - massiv verändert. Hier sehen Sie Ausschnitte aus der Rede:

Zur Rede des russischen Machthabers schreiben internationale Zeitungen am Donnerstag:

"Tages-Anzeiger" (Schweiz)

"Die Truppen sollen so schnell wie möglich und ohne große Vorbereitung zum Einsatz kommen und die Offensive aufhalten, welche die Ukraine noch immer voranzutreiben versucht. Schafft Putin die Männer wirklich innert nützlicher Frist gut bewaffnet an die Front, wird die Übermacht erdrückend sein. Für die ukrainische Armee, die nur noch wenig Reservemöglichkeiten haben dürfte, naht der Tag der Wahrheit. (...)

300.000 Mann kann der Kreml nicht mehr aus sozialen, ethnischen oder geografischen Randgruppen rekrutieren. Mit der Teilmobilmachung trägt er den für viele Bürger fernen Ukraine-Krieg mitten in die russische Gesellschaft. Und auch seine Anhänger, die heute vom Sofa aus mehr Härte verlangen vom Kreml, könnten schnell das Lager wechseln, wenn plötzlich sie und ihre Lieben gezwungen werden, in Putins Krieg zu ziehen. Damit droht mit der Mobilmachung nicht nur der Ukraine, sondern auch Russland der Tag der Wahrheit. Und allen voran Wladimir Putin, der alles auf eine Karte setzt. Und damit auch alles verlieren könnte."

"Neue Zürcher Zeitung" (Schweiz)

"Mit dem Entscheid zur Mobilisierung von 300 000 Reservisten und der Vorbereitung einer völkerrechtswidrigen Annexion von vier ukrainischen Provinzen erhöht er den Einsatz im Krieg gegen die Ukraine ganz wesentlich. Dabei handelt es sich jedoch nur vordergründig um eine Demonstration der Stärke. (...)

Von den angeblich 300 000 Reservisten, zusätzlich zu den derzeit eingesetzten schätzungsweise 100 000 Mann, sollte man sich nicht blenden lassen. Die Kampfmoral dieser zwangsverpflichteten Männer dürfte gering sein. Russland verfügt weder über ein effizientes Mobilisierungssystem noch über genügend Ausbilder. Die schlagkräftigsten Armeeverbände sind durch den monatelangen Abnützungskrieg geschwächt, zudem macht sich ein Mangel an Kriegsgerät und Munition bemerkbar. Bis Russland seine ausgezehrten Invasionstruppen regeneriert hat, wird daher einige Zeit vergehen. Vorläufig behalten daher die Ukrainer die Initiative - und sie haben jeden Anreiz, noch vor dem Wintereinbruch weitere Fakten auf dem Schlachtfeld zu schaffen."

"Süddeutsche Zeitung" (Deutschland)

"Über viele und aus Sicht vieler Russen durchaus gelungene Jahre hinweg lautete der Vertrag Wladimir Putins mit der Bevölkerung, dass der Kreml Wohlstand und Stabilität liefert und die Russinnen und Russen dafür auf nennenswerte kritische oder politische Aktivitäten verzichten. Es war ein Pakt, dem sich nie alle angeschlossen haben, der aber zum Befremden vieler westlicher Beobachter selbst nach dem Überfall auf die Ukraine in weiten Kreisen eine gewisse Wirkung behielt. Dieser Pakt wurde nun einseitig gekündigt. Die Illusion der Folgenlosigkeit des Krieges ist nicht länger aufrechtzuerhalten."

"Handelsblatt" (Deutschland)

"Nun also sollen mehr Russen an die Front, um dort mit veralteter Technik, überkommenen Kommandostrukturen und ohne mobilisierenden Sinn zu kämpfen. Russland riskiert so die große Niederlage. Den Sieg will Putin mit Drohungen erzwingen, vor allem mit der Drohung eines Atomkriegs. Damit will er die Ukrainerinnen und Ukrainer in die Flucht schlagen und den Westen davon abbringen, weiter Waffen an die Ukraine zu liefern. Mit Angst hat die Sowjetunion ihren Zusammenhalt geschafft, Angst soll nun wieder abschrecken. Doch das im Kalten Krieg zwischen der UdSSR und dem Westen verbreitete Prinzip der Abschreckung erlaubt es nicht, sich von Angst beherrschen zu lassen."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Deutschland)

"Im Ringen mit Putin bleibt der Westen nur ein glaubwürdiger Gegner, wenn er der Ukraine tatsächlich weiter zur Seite steht, mindestens im bisherigen Ausmaß. Lässt er sich von Putin nuklear erpressen, dann braucht er das Wort von der regelbasierten Weltordnung, die es zu verteidigen gelte, nicht mehr in den Mund zu nehmen, auch nicht gegenüber allen anderen Diktatoren. Doch nicht zuletzt in Deutschland könnte angesichts Putins Drohung die Versuchung wieder wachsen, auf Kosten der Ukrainer zu einem Arrangement mit Moskau zu kommen, dem sich der so hochtrabende wie falsche Titel 'Land gegen Frieden' (und Gas!) anheften ließe. Solches Appeasement wäre Verrat an den eigenen Werten und Interessen. Aber ist nicht alles besser als ein Atomkrieg? Diese Frage kann man nur mit Ja beantworten."

"Frankfurter Rundschau" (Deutschland)

"Bundeskanzler Olaf Scholz hat durchaus recht, wenn er davon spricht, dass Putin jetzt im 'Akt der Verzweiflung' handelt. Weil militärisch derzeit keine Erfolge zu erzielen sind, sollen besetzte ukrainische Gebiete nach Scheinreferenden russisch werden. Wenn Kiew dann diese zurückzuerobern versucht, sieht Putin die Legitimation für den Einsatz von Atomwaffen. Das hat er in seiner Rede deutlich gemacht und betont: 'Das ist kein Bluff.' Die Gefahr ist real. Aber sie darf nicht lähmen. Wichtiger ist es jetzt, dass der Westen die Initiative übernimmt: mit mehr Informationen für die russische Bevölkerung, um die Teilmobilisierung zu untergraben, mehr militärischer Hilfe für die Ukraine und stärkeren Anreizen für Putins Umfeld, doch noch an den Verhandlungstisch zu kommen.

"de Volkskrant" (Niederlande)

"Dass Putin seinen verbrecherischen und tödlichen Ambitionen, die das Fundament der internationalen Ordnung gefährden, mit nuklearen Drohungen Nachdruck verleiht, darf die Entschlossenheit der Verbündeten der Ukraine nicht brechen. Der Einsatz einer 'kleinen' Atomwaffe würde den Krieg nicht entscheidend beeinflussen, aber sehr negative Folgen für Russland haben - und zwar weltweit. Auch Putin weiß: Wer den Roulette-Tisch umwirft, wird rausgeschmissen und könnte Prügel beziehen.

Einer nuklearen Erpressung nachzugeben, würde erst recht destabilisierend wirken. (...) Der Westen sollte sich von Putins Rhetorik nicht abschrecken lassen, sondern stattdessen schwerere Ausrüstung - einschließlich Panzer und Kampfjets - schicken, die Kiew seit Monaten fordert. Nachdem Putin die weitere Zerstückelung der Ukraine angekündigt hat, kann es nur eine Antwort geben: Hände weg von der Ukraine!"

"De Standaard" (Belgien)

"Was ist von der nuklearen Drohung zu halten? Für manche ist dies ein Ausdruck der Schwäche, bei der Putin es mit der eigenen Nukleardoktrin nicht so genau nimmt. Andere befürchten, dass es nicht bei einem Bluff bleiben wird. Im Grunde genommen müssen wir zugeben, dass wir es nicht wissen. Daher stellt sich die Frage, inwieweit der Westen weiterhin militärische und logistische Unterstützung leisten kann, ohne dass die nukleare Bedrohung tatsächlich gefährlich wird.

Dieser nukleare Schatten und die Folgen der Energiekrise lassen die bedingungslose Unterstützung der Ukraine in Europa langsam schwinden. Putin bleibt ein mörderischer Kriegsverbrecher. Dennoch sollte eine 'goldene Brücke' in Erwägung gezogen werden, die ihm einen aus seiner Sicht akzeptablen Rückzug bietet. Wenn Friedensgespräche diplomatisch unmöglich bleiben, müssen wir angesichts der Ungewissheit das Schlimmste befürchten."

"El Mundo" (Spanien)

"Putin hat in seiner apokalyptischen Rede, in der er den Krieg als existenzielle Bedrohung Russlands darstellte, die Einberufung von 300.000 Reservisten gegen die Ukraine angekündigt. Er spielte erneut die Nuklearkarte, ein Zeichen gefährlicher Schwäche für einen Führer, der an drei Fronten in die Enge getrieben wurde: der militärischen, nachdem Kiew mit seiner Blitzoffensive Tausende von Quadratkilometern besetzten Territoriums zurückerobert hat, der inneren, wo der Ruf nach seinem Rücktritt lauter wird und der internationalen, wo die Freunde des Zaren auf Distanz gehen.

Putins Antwort bestand erneut darin, nach vorne zu stürmen und fiktive Referenden in den besetzten Gebieten abzuhalten. Damit sollen sie Russland einverleibt und unter den russischen Atomschirm gestellt werden, der die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten davon abhalten soll, sie angesichts der Gefahr einer atomaren Tragödie zu befreien. Bisher kam das Kanonenfutter aus entlegenen Gegenden Russlands, aber das Bild von Soldatensärgen, die in Moskau oder Sankt Petersburg ankommen, könnte die Stimmung einer in Propaganda erstickten Gesellschaft verändern und Putin sogar die Macht kosten."

"Irish Times" (Irland)

"Die Tatsache, dass Putin nun bereit ist, Reservisten einzuberufen, auch wenn sich diese Mobilisierung vorerst auf ehemalige Soldaten beschränkt, zeigt, dass ihm die Optionen ausgehen. Seine dezimierten und erschöpften konventionellen Streitkräfte, die durch bunt zusammengewürfelte Milizen, Söldner und Sträflinge ergänzt werden, sind nicht in der Lage, die ukrainischen Streitkräfte an mehreren Fronten zurückzuhalten. (...)

Als Putin am 24. Februar eine Atomdrohung aussprach, während seine Panzer in die Ukraine rollten, tat er dies aus einer Position der Stärke. Es wurde allgemein erwartet, dass Russland innerhalb weniger Tage die Kontrolle in Kiew übernehmen würde. Seine jüngste Drohung erfolgte aus einer Position der Schwäche. Dass Putin nun praktisch eingesteht, dass sich das Kriegsgeschehen gegen ihn wendet, wird die Ukraine und ihre westlichen Partner ermutigen. Aber ein russischer Präsident, der um das Überleben seines Regimes kämpft, bedeutet, dass der Krieg in eine neue, noch gefährlichere Phase eintritt."

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