Ein Jahr Taliban: Angst vor neuem Bürgerkrieg in Afghanistan
2001 durch eine US-geführte Koalition gestürzt, herrschen die Taliban seit einem Jahr wieder über Afghanistan. Im Sommer 2021 überrannten die Radikal-Islamisten binnen Wochen das Land; am 31. August zogen die internationalen Truppen einen Schlussstrich unter ihre gescheiterte Mission – und überließen die Bevölkerung ihrem Schicksal.
Während es kurz nach dem Fall Kabuls weltweit Anteilnahme gab, wird mittlerweile über die Lage der 40 Millionen Afghanen nur noch selten berichtet. Vergessen zu werden sei der „Albtraum“ aller Menschen im Land, sagt dazu die Journalistin Shikiba Babori, eine gebürtige Afghanin, im Gespräch mit dem KURIER. Denn das sei bereits einmal geschehen, nach dem Abzug der Sowjettruppen 1989, als das Land in einem Bürgerkrieg versank, aus dem die Taliban Mitte der 90er-Jahre als Sieger hervorgingen.
Bildung verwehrt
Vor allem für die Frauen sei das Desinteresse damals verheerend gewesen, meint Babori, deren neues Sachbuch „Die Afghaninnen – Spielball der Politik“ vor kurzem erschienen ist. Ihre systematische Unterdrückung hätte nur ungehindert vollzogen werden können, „weil man nicht mehr hingeschaut hat“.
Auch heute leiden Millionen Mädchen und Frauen unter den Taliban. Schulbildung bleibt Mädchen über zwölf in den allermeisten Landesteilen verwehrt, ebenso eine Berufsausbildung. Berufstätigkeit ist nur in Branchen erlaubt, in denen es keinen Ersatz gibt, etwa im Gesundheitsbereich. Ein verhüllter Körper, zumeist durch eine Burka, ist für alle Frauen Pflicht, längere Reisen sind nur in Begleitung eines männlichen Verwandten („Mahram“) erlaubt.
Immer wieder demonstrieren Frauen in Kabul und anderen Städten gegen die Repressionen, die Taliban gehen brutal gegen solche Proteste vor, feuern Schüsse ab oder lassen die Aktivistinnen für einige Tage verschwinden. Mit westlichen Journalisten zu reden, selbst anonym, ist für sie lebensgefährlich.
Fragiler Frieden
Manche Frauen haben sich allerdings mit der Lage abgefunden – sei es, weil sie in Regionen leben, in denen die Taliban auch in den vergangenen 20 Jahren stark waren, oder weil nun zumindest Frieden herrscht. „Früher konnte man nicht von West- nach Ostafghanistan fahren“, sagt Waslat Hasrat-Nazimi, die wie Babori afghanische Wurzeln hat und für die Deutsche Welle über ihr Heimatland schreibt.
Der Frieden ist jedoch fragil, wie die Autorin des ebenfalls neu erschienen Buches „Die Löwinnen von Afghanistan“ sagt. Unter den Taliban gebe es Machtstreitigkeiten, dazu kommt die massive Präsenz der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Langfristig erwarten sowohl Hasrat-Nazimi als auch Babori einen neuen Bürgerkrieg.
Bedrohlich ist aktuell vor allem aber die humanitäre Situation. Seit dem Abzug der internationalen Truppen kommt kaum mehr Geld in Afghanistan an, Hilfszahlungen wurden gestoppt, damit sie nicht in die Hände der Taliban gelangen. Die bittere Armut wird verschärft durch Naturkatastrophen: Nach einer langen Dürre kam es zuletzt zu Regenfällen samt Überflutungen, Ende Juni erschütterte ein Erdbeben mit mehr als 1.000 Toten das Land.
Im Moment gibt es laut Babori mehr Binnenflüchtlinge als während des Bürgerkriegs. Familien hungern, immer mehr Mädchen werden jung verheiratet, entweder wegen des Brautgeldes oder damit sie versorgt sind. Das Land zu verlassen, sei mittlerweile äußerst schwierig geworden, sagt Hasrat-Nazimi. Die Taliban kontrollierten die Grenzen genau und stellten zudem keine Pässe mehr aus.
Vor allem in den ersten Monaten nach der Machtergreifung haben aber Zehntausende Menschen das Land verlassen. Viele von ihnen gehörten der sogenannten „neuen Generation“ an, die in den vergangenen 20 Jahren erwachsen wurden und eine Ausbildung genossen. „Das Land hat – wieder – eine Mittelschicht verloren“, resümiert Babori.
Balanceakt gefordert
Was aber kann getan werden, um die Not der Menschen, die geblieben sind, zu lindern? Über Afghanistan reden und berichten, sagen beide Autorinnen unisono, denn das schütze die Menschen und vor allem die Frauen vor Ort bis zu einem gewissen Grad. Wichtig sei auch, die politischen Versäumnisse der letzten 20 Jahre aufzuarbeiten und einen Weg zu finden, mit den Taliban umzugehen, da diese wohl länger an der Macht bleiben würden.
Mit ihnen zu verhandeln, ohne ihnen Legitimation zu verschaffen, etwa über Hilfslieferungen, sei ein Balanceakt, aber unumgänglich, findet Hasrat-Nazimi wie auch andere internationale Experten. Wichtig sei auch, den Schulbesuch wieder für alle Mädchen zu ermöglichen und das Arbeitsverbot für Frauen aufzuheben.
Babori schlägt in diese Kerbe: „Was ist wichtiger? Menschen zu retten oder Kontakte zu den Taliban verhindern, was ohnehin nie zu 100 Prozent möglich sein wird?“, fragt sie mit Blick auf die humanitäre Katastrophe im Land. Man müsse Hilfe an konkrete Bedingungen knüpfen, deren Einhaltung konsequent überprüft werden müsse.
Dazu müsse Druck auf die Taliban aufgebaut werden, damit sich diese entwaffnen, was auch durch Druck auf die wichtigsten Partner der Islamisten passieren könnte: Saudi-Arabien, das deutsche Waffen beziehe, Katar, das die Fußball-WM austrage, Pakistan und Iran. Dafür fehle aber leider die Bereitschaft: „Lippenbekenntnisse gibt es nicht nur vonseiten der Taliban, sondern auch vom Westen.“
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