Ein Jahr nach Nizza: Das Leid der Nachgeborenen

Gedenken an die Opfer des Terrors von Nizza
86 Menschen wurden in Nizza zu Tode gewalzt. Seither leiden 1200 Kinder, auch Babys, die danach zur Welt kamen, aber deren Mütter das Massaker erlebten, unter schweren Störungen.

Der heutige französische Nationalfeiertag wird dem Gedenken an den Anschlag von Nizza von vor genau einem Jahr gewidmet sein. Unter anderem wird bei Abschluss der Parade auf den Pariser Champs-Elysée, diesmal im Beisein von US-Präsident Donald Trump (siehe auch unten), eine Militärkapelle die Stadthymne "Nissa La Bella" 86 Sekunden lang spielen, weil der Attentäter mit seinem Lkw 86 Menschen getötet (und 400 verletzt) hatte. Gleich danach wird Staatschef Emmanuel Macron zu Zeremonien nach Nizza aufbrechen.

Serie von Anschlägen

Aber im Vorlauf des jetzigen Gedenkens war das Massaker von Nizza in Frankreich fast schon zu einer vagen Erinnerung verschwommen angesichts der endlosen Litanei islamistischer Anschläge. Wobei beim Gemetzel in und um die Pariser Konzerthalle "Bataclan" 2015 noch mehr, nämlich 130 Menschen umgebracht worden waren.

Und zuletzt trat dann doch noch, unter all dem Schrecken, eine einzigartige Steigerungsstufe zu Tage: von 3000 Personen, die in Nizza wegen post-traumatischer Störungen betreut werden, sind 1200 Kinder. "Wir betreten Neuland. In Europa hat zuvor kein Anschlag derartig viel Kinder und sogar Babys getroffen", erklärte die Leiterin der Kinderpsychiatrie des Spitals Lenval, Florence Askenazy, der liberal-katholischen Zeitung La Croix, die diesem Aspekt eine aufwühlende Reportage widmete.

Der Grund für die vielen traumatisierten Kinder: Der Täter, der 31-jährige Tunesier Mohamed Lahoualej-Boulel, raste mit einem 19-Tonnen-Laster in eine vielfach aus Familien bestehende Menge, die sich am Abend des Nationalfeiertags auf der Strandpromenade von Nizza versammelt hatte, um das traditionelle Feuerwerk zu bewundern.

Kinder wachsen nicht

Seither muss das – inzwischen erschöpfte – multidisziplinäre Spitalsteam Kinder umsorgen, die "sich nicht mehr normal entwickeln, Erlerntes wieder vergessen und Verhalten an den Tag legen, die an autistische Störungen erinnern."

Eine Fünfjährige will ihren Geburtstag nicht feiern aus Angst "dass danach sich das Attentat wiederholt". Ein Bub, normalerweise in einer Wachstumsphase, ist "in einem Jahr keinen Zentimeter gewachsen". Und dann gibt es noch die Babys, die nach dem Anschlag geboren sind, deren Mütter aber während ihrer Schwangerschaft das Massaker durchlitten haben: ein elf Monate altes Baby zeigt keine Regung, wenn es von der Mutter getrennt wird, Eltern müssen wieder die Freude am Umgang mit den eigenen Kindern lernen. "Damit Entwicklungsrückstände sich nicht dauerhaft festsetzen, müssen wir noch schneller als bisher eingreifen", sagt Abteilungsleiterin Askenazy, die schon Mut schöpft, wenn "Eltern und Kinder, sich wieder gemeinsam kleine Vergnügen gönnen".

Täter war Außenseiter

Aber der heutige Jahrestag ist für Überlebende auch eine Belastungsprobe. Eine der Schwierigkeiten im Umgang mit dem Geschehenen kommt daher, dass sich noch nach einem Jahr und 80.000 Seiten Erhebungsprotokollen der (von Polizisten erschossene) Täter einer klaren Einordnung entzieht.

Feststeht zwar, dass er sich mit seinem Leih-Lkw auf den Anschlag bei mehreren Probefahrten entlang der Strandpromenade vorbereitet hatte. Es konnte aber weder ein Kontakt mit Auftraggebern im Nahen Osten noch mit den örtlichen, gar nicht so wenigen Gefährdern, die unter Beobachtung der Behörden stehen, nachgewiesen werden.

Dazu kommt sein Profil als irrlichtender Außenseiter. Er war schon lange zuvor unter tunesischen Landsleuten als unberechenbarer Schläger wahrgenommen worden. Während seiner Jugend in Tunesien quälte er mit Zornausbrüchen seine Familie, er wurde von Psychiatern betreut und bekam Psychopharmaka. 2005 ließ er sich in Nizza nieder und heiratete eine nachgezogene Cousine. Diese wurde von ihm über Jahre schwerstens misshandelt. Als schließlich das dritte Kind unterwegs war, erwirkte die Frau ein Scheidungsverfahren.

Holzlatten-Attacke

Den Behörden war er als Gesetzesbrecher, aber nicht als Islamist aufgefallen. Er war wegen Diebstahls und Gewaltanwendung mehrmals ins Visier der Justiz geraten. Zuletzt im März 2016: Da wurde er zu sechs Monaten bedingter Haft verurteilt, weil er einen Autofahrer bei einem Streit um einen Parkplatz mit einer Holzlatte angegriffen hatte. Die Ermittler entdeckten auch, dass der Mann regelmäßig intime Beziehungen mit mehreren Dutzend Personen beiderlei Geschlechts und auch höheren Alters unterhalten hatte.

Islamistische Fundamentalisten berufen sich gerne auf derartige Persönlichkeitsmerkmale, um jeden Zusammenhang zwischen ihrer eifernden Polit-Religion und solchen Massenmördern zu bestreiten. Aber der französische Dschihadismus-Experte Wassim Nasr konstatierte bezüglich des selbst ernannten "Islamischen Staats" (IS): "Er legt seine Fangnetze so breit aus, dass unterschiedlichste Leute über Nacht ihre Zugehörigkeit beschließen können. Bei Delinquenten kommt die Vorstellung dazu, sie würden als Dschihadisten einen Sündenablass bekommen."

Tatsächlich erklärte der IS den Todesfahrer posthum zum "Soldaten des Kalifats". Und knapp zuvor hatte der IS seine Anhänger in Europa dazu aufgefordert, mit Autos Menschen niederzuwalzen.

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