Türkei: Ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft
In einer Ecke im Istanbuler Teehaus "Tolga" steht, abgesperrt durch ein weinrotes Kordelband, ein kleiner Marmortisch, dahinter ein mit rotem Samt bezogenes, durch goldene Schnörkel barocken anmutendes Sofa. Ein Herrendiener mit einem hellblauen Anzug ist links davon zu sehen. An der Wand dahinter das Foto eines jungen Mannes in weiß, eine Uhr in Form des türkischen Halbmondes und eine offizielle Auszeichnung für Tolga Ecebalin. Ecebalin ist einer derjenigen, die bei dem Putschversuch vor genau einem Jahr ihr Leben gelassen haben und als "Märtyrer des 15. Juli" in der Türkei verehrt werden, weil sie sich den putschenden Soldaten entgegenstellt haben. Den Teegarten mit der Gedächtnisecke hat sein Vater für ihn am Ufer des Goldenen Horns eingerichtet.
An der hilflosen Geste erkennt man, wie tief die Trauer, die Lähmung und der Schmerz sitzen. Und Ecebalin ist kein Einzelfall: 249 Menschen haben in der Türkei in jener Nacht ihr Leben verloren, weil sie dem Aufruf von Präsident Erdoğan, der in der Nacht des 15. Juli 2016 in Endlosschleife von den Minaretten des Landes widerhallte, gefolgt waren. Jetzt jährt sich dieses dramatische Ereignis und mit dem Jahresabstand wird klar, dass es nicht nur eine schwere Zäsur in der Geschichte der Republik Türkei darstellt, sondern auch einen tiefen Spalt in die Gesellschaft getrieben hat, der weiter als klaffende Wunde spürbar ist.
"Wir Türken sind aus unserem Dornröschenschlaf erwacht", erklärt Ali, ein Rentner aus dem Istanbuler Stadtteil Kasimpasa, auf die dramtischen Ereignisse vom 15. auf den 16. Juli angesprochen: "In jener Nacht ist die neue Türkei geboren worden!" Ali hat kurze, graue Haare und wache, helle Augen. Er redet gerne über Politik. Insbesondere, seit es in der Türkei so gut läuft, wie er findet. Ali glaubt, dass man bereits die ersten Schritte dieser neu erwachten Türkei hören kann, weil sie sich nichts mehr von den bösen, ausländischen Mächten vorschreiben lässt. Er ist begeistert davon, wie stark, mächtig und unabhängig sich sein Heimatland präsentiert, allen voran der unbeugsame Präsident Recep Tayyip Erdoğan. "Als Erdoğan kam, sind wir aus unserem Koma erwacht", sagt Ali und auch, dass die Türkei einen starken Herrscher an der Spitze brauche, so wie einst die osmanischen Sultane. Der 15. Juli war für ihn ein "ein Befreiungskrieg", den das Volk ausgefochten und gewonnen hat.
Die Metapher des "Befreiungskrieges", den seinerzeit 1923 der Feldherr Mustafa Kemal Atatürk gewonnen hat, um kurz danach die Republik Türkei zu gründen, die Ruinen des Osmanischen Reiches dabei vollständig in den Nebel der Geschichte verbannend, ist aber nicht nur unter den Anhängern Präsident Erdoğans beliebt. Man hört sie auch viel in der ehemaligen kemalistischen Elite, der säkularen Oberschicht, die lange Jahre wirtschaftlich und politisch an der Macht war, nun aber durch Erdoğan und seine Anhänger und ihrem religiös-konservativen Weltbild immer weiter verdrängt wird. Allerdings möchten sie sich von etwas ganz Anderem befreien.
"Nicht von Sultan regiert werden"
"Das ist unser Befreiungskrieg, und wir müssen ihn gewinnen!", erklärt eine ältere Frau, gepflegt, mit dem roten Lippenstift passend zum T-Shirt in den türkischen Nationalfarben. Sie ist auf dem Weg zur großen Abschlussveranstaltung des "Marsches für Gerechtigkeit" von Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu am vergangenen Sonntag. "Wir wollen uns nicht von einem Sultan im Palast regieren lassen!", schimpft eine andere Frau, in der Hand hält sie eine türkische Fahne. Für die beiden war der Putschversuch ein abgekartetes Spiel. "Erdoğan hat diesen Putsch selber initiiert, damit er den Ausnahmezustand ausrufen kann und seine politischen Gegner beseitigen. Schreiben Sie das!", ruft ein älterer Mann mit grauem Schnauzer und von der Sonne gerötetem Gesicht dazwischen.
Dabei hat durch den Putschversuch eigentlich niemand gewonnen. Das konnten auch die pompösen Siegesfeiern nicht übertönen. Denn jeder, der sieht, wie Tolgas Vater seinem toten Sohn jeden Morgen ein Glas Tee auf den Tisch stellt, versteht, dass der Streit um die Macht im Staat in den Herzen der Menschen etwas zerrissen hat.
Ein gefährlicher Terrorist für seine Gegner, ein Prophet für seine Anhänger. Der im US-Exil lebende islamische Prediger und seine weltweit operierende Gülen-Bewegung polarisieren. Seit der Nacht auf den 16. Juli 2016 ist für die türkische Regierung klar: Gülen ist der Drahtzieher des versuchten Putsches. Doch welche Folgen haben die bisher nicht belegten Anschuldigungen für das islamisch-religiöse Netzwerk von Fethullah Gülen?
Erbitterter Kampf
Für die einst so erfolgreiche Bewegung in der Türkei hatten die Vorwürfe katastrophale Auswirkungen. Zahlreiche Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, Besitztümer enteignet, (vermeintliche) Mitglieder massenweise verhaftet, Staatsbedienstete entlassen. Kurz: Das organisatorische und finanzielle Rückgrat des Netzwerks wurde gebrochen. Trotz der Massensäuberungen seien Gülen-Anhänger aber nach wie vor aktiv – wenngleich unter höchst erschwerten Bedingungen, sagt Thomas Schmidinger, Experte für politischen Islam.
Auch in Österreich ist Gülens "Hizmet"-Bewegung mit mehreren Bildungseinrichtungen, wie dem "Friede-Institut für Dialog", vertreten. Trotz wiederholter Kontaktversuche war dort niemand für den KURIER erreichbar. Die Zahl der Anhänger zu beziffern, sei vor allem nach dem Putschversuch problematisch, da viele ihre Zugehörigkeit verschleiern würden, so Schmidinger. In Österreich seien es jedoch "einige Tausend".
Von Freunden zu Feinden
Die langjährigen Verbündeten Erdoğan und Gülen hatten ein gemeinsames Ziel: Die Entstehung einer tief religiös-islamischen Gesellschaft in der Türkei. Ideologisch würden sich die beiden Strömungen, entgegen der liberalen Selbstdarstellung der Gülen-Bewegung, kaum unterscheiden, sagt Schmidinger. Die Bewegung zielt aber auf die Bildung von Eliten ab, erklärt der Experte. In der Türkei besetzte Gülen Schlüsselpositionen mit seinen Anhängern, international etablierte er zig Bildungseinrichtungen.
Während des Korruptionsskandals 2013 kam es zu einem Ende der Partnerschaft. Seit dem Bruch und verstärkt nach dem Putschversuch geht die türkische Regierung massiv gegen die Bewegung vor. Gülen spricht von einer "Hexenjagd".
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