Dolce Vita mit angezogener Bremse: Italiens langsame Rückkehr
„Fase due“ (Phase Zwei) – wie lange hat Italien auf dieses Kommando gewartet. Italiener waren zuhause geblieben, haben einander nur von Balkonen oder Fenstern zugerufen, sind nur für das Nötigste vor die Tür gegangen. „Manchmal haben wir uns darüber gestritten, wer heute den Müll rausbringen darf“, berichtet eine Italienerin über den Alltag in der Isolation.
Am Freitag schlug sich schließlich in den Zahlen nieder, was manche bereits geahnt hatten: In Italien wird die Zahl der Neuinfektionen mittlerweile von der Zahl der Genesungen übertroffen. Die Infiziertenzahlen insgesamt gehen erstmals zurück. Und wie an einer Beatmungsmaschine kann das ganze Land einen tiefen Atemzug nehmen.
Seit 22. März war die Italienische Wirtschaft im „Lockdown“. Fast die Hälfte aller Betriebe – mehr als zwei Millionen Betriebe – mussten schließen, berichtet Gudrun Hager, die österreichische Wirtschaftsdelegierte in Mailand.
Zu spät, melden jetzt viele. Doch Ausgangsbeschränkungen und Grenzschließungen waren in der Zeit damals noch alles andere als Usus. Ende Februar hatte der Bürgermeister von Mailand noch stolz verkündet „Mailand hört nicht auf“ – und erlaubte der Gastronomie abends geöffnet zu bleiben.
Aprildekret
Mit 14. April hat die Regierung nun erlaubt, einige Industrien wieder anlaufen zu lassen, etwa die metallverarbeitende und die automotive Industrie. An diesem Wochenende will Premierminister Giuseppe Conte ein weiteres Dekret präsentieren.
Mit 27. April soll die Stufenweise Öffnung weiter gehen. Ungewiss ist vor allem noch, wann etwa Bekleidungsgeschäfte, Restaurants und Bars, sowie Theater, Kinos und Sportveranstaltungen wieder anlaufen sollen. Die Restriktionen der Bewegungsfreiheit gelten vorübergehend bis 3. Mai. Schulen werden wohl erst im Herbst wieder öffnen.
Man müsse das natürlich alles genau abwiegen, sagt Hager von der Wirtschaftskammer, aber „man darf dabei nicht vergessen, wie wichtig auch für uns ist, dass Italien funktioniert“. Das Land mit 61 Millionen Einwohnern ist immerhin der zweitwichtigste Industriestandort Europas.
„Das alles ist natürlich nur möglich wenn die Zahlen stimmen“, schränkt Hager mit Blick auf die Neuinfektionen ein. Dass diese endlich zurückgehen, sei erfreulich, sagt Marcello De Angelis vom italienischen Roten Kreuz zum KURIER. Die Kapazitäten der Krankenhäuser sind mittlerweile ausreichend, auch weil Spitäler in wenigen Tagen aus der Erde gestampft wurden. „Die am meisten betroffenen Regionen sind auch jene, die die am besten organisierten Gesundheitssysteme haben“, sagt der Rot-Kreuz-Sprecher, will aber angesichts der vielen Todesopfer nicht von „Glück“ reden.
Italexit steht im Raum
Unterstützung erhielt das italienische Gesundheitssystem auch von China, in Form von Material und Virologen, die „unaufgeregt und bescheiden“ ihr Know-how teilten, so ein Mediziner. „Sie waren die Ersten, die halfen“, sagt De Angelis.
Das hört man hier oft. Kaum Lob gibt es hingegen für die EU-Staaten. Im Gegenteil. Befragungen lassen erahnen, dass die Stimmung sich gegen die EU wendet. 42 bis 49 Prozent der Befragten (je nach Studie) meinen, dass man sogar austreten solle.
Das nutzt und befeuert ein alter Bekannter: Ex-Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega. Er sagt, „Italien muss die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung überdenken“ und denkt laut über eine Volksabstimmung über den EU-Austritt nach.
Sorge um die Psyche
Doch es gibt eine große Unbekannte: Zwar hat es manche Regionen (Lombardei, Veneto) stark erwischt, andere allerdings nur sehr gering. Bei einem achtlosen Start des Alltags bestehe die Gefahr, dass „alles wieder von vorn beginnt“, so De Angelis.
Dennoch sei jetzt einmal Aufatmen angesagt. Deshalb macht er auf ein anderes Gesundheitsrisiko aufmerksam, das sich der Verbreitung der Lungenkrankheit untergeordnet habe: Die Lebensumstände der Menschen in der Isolation. Einsamkeit, Hilflosigkeit, Depressionen. Auch Menschen mit Atemproblemen seien in der Isolation stärker gefährdet. Ebenso wie Opfer häuslicher Gewalt.
Die Sorgen um die Psyche der Menschen macht sich De Angelis nicht nur als Rot-Kreuz-Sprecher, sondern auch als Marcello, die Privatperson. „Vor dieser Pandemie habe ich Durchmischung als etwas Gutes angesehen – was Kultur, Meinungen, Wissen betrifft. Mauern hingegen waren etwas Böses“, sagt er. Jetzt seien es aber genau diese Mauern der sozialen Distanz, die uns schützen. „Die Menschen merken es vielleicht nicht, aber sie ändern ihr Verhalten in einem großen Ausmaß. „Wir dürfen nicht zulassen, dass soziale Distanz permanent wird.“
Kommentare