Do swidanja, Mütterchen Russland
Jewgeni Wassiljew hat ein Problem: Der Käufer drängt auf Vertragsabschluss und droht dunkel mit "Alternativen". Doch der Bauingenieur kann seine Moskauer Wohnung nicht verkaufen, bevor Kanada nicht positiv über sein Einwanderungsgesuch entschieden hat. Auf den Bescheid wartet er seit Tagen. Die dafür nötigen Punkte haben er und seine Ehefrau Jekaterina, auch sie ist Ingenieurin, ohne große Mühe zusammenbekommen. Beide sind Anfang Dreißig, sprechen gut Englisch. Die beiden Kinder bringen in den vergreisenden Gesellschaften des Abendlandes zusätzliche Punkte. Sollte es dennoch mit Kanada nicht klappen, sagt Jekaterina, wären Bulgarien oder die Slowakei eine "Variante". "Die Sprachen sind ähnlich, die lernen wir schnell." Nur eine "Variante" kommt für beide nicht infrage: in Russland bleiben.
Weg aus Kaliningrad
203.659 Bürger stimmten allein zwischen Jänner und August 2014 mit den Füßen gegen Mutter Heimat – und wanderten aus. Fast doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Vor allem Junge, gut Ausgebildete, Kreative und politisch Aktive kehren Russland den Rücken. Spitzenreiter ist die Ostsee-Exklave Kaliningrad. Deren Einwohner nutzten die Einreise-Erleichterungen für benachbarte EU-Staaten nicht nur zum Shoppen, sondern auch zum Staunen. Der Vergleich mit Russland fiel offenbar nicht zu dessen Gunsten aus. Auswanderer zieht es dennoch vor allem nach Deutschland, jeder Fünfte will in die Bundesrepublik.
Ursachen für Massenflucht
Ursache für die Massenflucht ist nicht nur die anhaltende Wirtschaftskrise und daraus resultierende Zukunftsangst. Vor allem der Mittelschicht geht der Obrigkeitsstaat, der alles regelt und seinen Bürgern wenig Spielraum für eigene Entscheidungen lässt, auf die Nerven. Dazu kommen die nach wie vor hohen bürokratischen Hürden für Start-ups. Und seit Vater Staat Militärs und anderen Geheimnisträgern Auslandsreisen untersagt, wächst die Furcht, der Eiserne Vorhang könnte für alle Bürger erneut niedergehen. Und so erreichte die Abwanderung 2014 den höchsten Wert seit 15 Jahren.
Im gleichen Zeitraum bemühten sich 361.384 Menschen um ständigen Wohnsitz in Russland, rein arithmetisch ist der Aderlass damit mehr als ausgeglichen. Doch die Neubürger kommen vor allem aus Ex-Sowjetrepubliken, sind schlecht ausgebildet, haben Sprach- und Integrationsprobleme.
Das, warnt der Publizist Nikolai Gulbinski in der Nesawissimaja Gaseta, die sich in ihrer jüngsten Beilage ausführlich dem Thema widmete, habe "verheerende Folgen für die Qualität der menschlichen Ressourcen". Die Lücke, die Emigranten reißen, könnten Immigranten nicht schließen. Mit ihnen sei das für 2017 angepeilte Wirtschaftswachstum von sechs Prozent nicht möglich. Eine baldige Trendwende sei wenig wahrscheinlich. Mit Rückkehrern sei Russland stets eher rabiat umgegangen. Und auch die heutigen Emigranten würden verteufelt und als Fünfte Kolonne diffamiert.
Kommentare