Dilmas Dilemma und Putschvorwürfe

Die drohende Amtsenthebung der Staatschefin spaltet Brasilien in zwei erbitterte Lager.

"Muro de Impeachment" (Mauer des Amtsenthebungsverfahrens) wird jener zwei Meter hohe Blechzaun genannt, der Gegner und Befürworter der Absetzung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, 68, trennt. Schon Tage vor der historischen Abstimmung im Abgeordnetenhaus am Sonntag haben sie in der Hauptstadt Brasilia Stellung bezogen. Physisch liegen zwischen den beiden Lagern nur 80 Meter, die von Sicherheitskräften bewacht werden. Ideologisch sind die Kontrahenten jedoch meilenweit voneinander entfernt. Durch die gesamte Gesellschaft geht ein tiefer Riss.

Erbitterter Lagerkampf

Auf der einen Seite stehen die linken "Rothemden" der Arbeiterpartei PT (samt Verbündeten), die seit 2003 an der Macht ist – zunächst mit dem legendären Gewerkschaftsführer Luiz Inacio Lula da Silva, seit 2012 mit Staatschefin Rousseff, die im Volksmund schlicht Dilma heißt. Von ihren Gegnern werden sie verächtlich "Mortadella" genannt, hier in Brasilien ein Essen der Armen. Auf der anderen Seite mobilisiert die vereinte Rechte in den Farben gelb-grün, die hofft, einen der Ihren in den Präsidentenpalast hieven zu können.

Rousseff wird Korruption vorgeworfen. Sie soll im Wahljahr 2014 Budgetzahlen geschönt haben, auch der Vorwurf der Parteifinanzierung durch den staatlichen Ölkonzern Petrobras steht im Raum. Sollten am Sonntag zwei Drittel der Abgeordneten für das Impeachment stimmen, würde Rousseff für 180 Tage suspendiert werden. Ihr Vize, der konservative Michel Temer, übernähme das Amt. Das letzte Wort hätten der Senat beziehungsweise der Oberste Gerichtshof. Die Regierung hat gegen die Abstimmung am Sonntag bei Gericht Einspruch erhoben - scheiterte aber. Der Oberste Gerichtshof gab am Freitag grünes Licht die Abstimmung am Sonntag.

Während hinter den Kulissen um jede Stimme gekämpft wird, lieferten sich die Parlamentarier vor laufenden Kameras Schreiduelle. Höchste Vertreter der Linken sprechen offen von einem "Putsch", den die Rechte betreiben wolle – mithilfe der Justiz in Verbindung mit Medienkonzernen, die allesamt von nur sieben Familien beherrscht werden. Als Beweis für den geplanten Umsturz werten sie die "Antrittsrede" Temers als Präsident, die er auf seinem Handy probehalber aufgenommen und irrtümlich versendet hat.

Auch in Rio ist die Spannung spür- und sichtbar. Auf Balkonen hängen Transparente mit der Aufschrift "Fora PT" – weg mit der PT. Dilma-Anhänger kontern mit "Nao vai ter golpe" – es wird keinen Putsch geben. Eine Minderheit wünscht sich sogar, dass das Militär die Zügel übernimmt. Fast täglich rufen die Lager zu Demos . "Es gibt so viel Hass und Fanatismus wie nie zuvor", fasst der bekannte Befreiungstheologe Leonardo Boff im KURIER-Gespräch die Lage zusammen.

Zusätzlich angeheizt wird diese durch die schlimmste Rezession seit fast 100 Jahren. Die Wirtschaft schrumpfte 2015 um 3,7 Prozent, die Arbeitslosigkeit schnellte um fast zehn Prozent in die Höhe. Während Essen in Restaurants und Benzin in etwa gleich teuer sind wie in Österreich, liegt der Mindestlohn bei 200 Euro pro Monat. Dazu kommt Korruption. Im Zentrum steht Petrobras, der Dutzende Politiker geschmiert haben soll. Gegen ein Viertel der Kongress-Abgeordneten wird ermittelt.

"Kontrolle verloren"

"Die Regierung hat die Kontrolle über wichtige Bereiche verloren, die ein Land am Laufen halten: die Politik, die Wirtschaft, die Straße", sagt Lucas de Aragao vom Beratungsunternehmen Arko Advice. Auch der Soziologe Ivo Lesbaupin vom Thinktank ISER in Rio, der von der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar unterstützt wird, sieht die Lage für Dilma, die nur noch auf zehn Prozent Zustimmung kommt, äußert dramatisch. Sie habe nach dem knappen Wahlsieg einen neoliberaleren Kurs eingeschlagen, nun sitze sie zwischen allen Stühlen: "Der Rechten, die die Niederlage 2014 nie akzeptiert hat, ist das dennoch zu wenig, und die Linke, zumal die intellektuelle Linke, ist enttäuscht." Dilma sei zudem "keine Politikerin, sondern eine Verwalterin".

Die Krise "nützt vor allem Lula (der selbst unter Korruptionsverdacht steht; Anm.)", meint ISER-Mitarbeiter Francisco Orfino. Die jüngste Umfrage gibt ihm recht. Auf die Frage, wer das Land führen soll, liegt Lula, der mit seiner Politik in den Boomjahren sowohl die reiche Oberschicht bediente als auch 30 bis 40 Millionen Brasilianer aus der extremen Armut führte, mit Abstand an erster Stelle. Trotz anderslautender Aussagen Lulas glaubt Orfino nicht, dass er 2018 wieder für das Präsidentenamt kandidieren wird: "Er ist der letzte charismatische Politiker, der noch gegen die Militärdiktatur gekämpft hat. Diesen Mythos will er sich bewahren und (als Gründer eines neuen Brasilien auf dem Weg zu einer starken Nation; Anm.) wie Charles de Gaulle in die Geschichte eingehen."

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