Es ist vermutlich der meistdiskutierte Zeitungskommentar Großbritanniens – obwohl er nie veröffentlicht wurde. Im Februar 2016, also gerade einmal vier Monate vor dem Brexit-Referendum, schrieb Boris Johnson für den britischen Telegraph eine seiner wöchentlichen Betrachtungen. Es war ein leidenschaftliches Plädoyer für den Verbleib in der EU.
Der damalige Londoner Bürgermeister aber entschied sich im letzten Moment für die zweite Variante des Kommentars, die er ebenfalls verfasst hatte: Ein genauso leidenschaftliches Plädoyer für den EU-Austritt. Dieser Text erschien, der andere verschwand in der Schublade. Boris Johnson wurde Anführer der Kampagne für den Brexit, die er im Juni 2016 zum Sieg führen und die Welt vor den Kopf stoßen sollte.
Oberschicht-Sprössling
Eine Anekdote, die viel über einen Oberschicht-Sprössling erzählt, der das Leben immer schon als Spiel betrachtet hat, bereit war, Risiken einzugehen, um politisch zu gewinnen. „Der großspurige Auftritt, das linkische Selbstvertrauen, die beunruhigende Neigung zu einer unmittelbar bevorstehenden Selbstschädigung ...“, all diese Charaktereigenschaften habe Boris schon am College gehabt, erzählte kürzlich ein ehemaliger Schulkamerad.
Charaktereigenschaften, die jetzt wieder sichtbar geworden sind: Beim Putsch gegen seine Vorgängerin Theresa May, beim Spiel mit dem Parlament in London, das er gegen alle demokratischen Spielregeln in eine Zwangspause schickte – und zuletzt sogar die Queen dafür missbrauchte.
Das riskanteste Spiel aber war die jüngste Wahlkampagne: Johnson setzte allein auf seine Rolle als Kreuzritter des Brexit und auf einen einzigen pausenlos gedroschenen Wahlslogan: „Kriegt den Brexit hin“. Eine Aufforderung, die er den Wählern quasi in den Mund legte, gerichtet an das Parlament, das Johnson zum alleinigen Sündenbock für die Brexit-Blockade machte. Die Wähler nahmen dankbar an. Der Brexit war ihnen offensichtlich wichtiger als alle anderen Probleme Großbritanniens, vom Gesundheitssystem bis zur altersschwachen Infrastruktur.
Ganz neue Wähler
Es sind zu einem Gutteil Wähler, die nie zuvor für die Konservativen gestimmt haben. Arbeiter und Pensionisten aus den heruntergewirtschafteten Industrieregionen im Norden Englands. Sie hatten 2016 für den Brexit gestimmt, und die sozialistische Labour-Partei unter Jeremy Corbyn war nicht bereit, genau den fix zu versprechen. Also wählten sie Boris Johnson und genau damit jene Partei, die den ohnehin kargen britischen Sozialstaat weiter zurechtgestutzt hatte.
Diese Wähler wollen den Brexit, vor allem weil sie nicht um ihre Stimmen von 2016 betrogen werden wollen. Konkrete Vorstellungen, wie die zukünftigen Beziehungen zur EU aussehen sollen, haben sie ohnehin nicht. Für sie zählt der Vollzug des Austritts – und den kann Johnson im Jänner jetzt mit Pomp und Gloria vollziehen.
Ein bisschen sozialer?
Was diese Wähler aber spüren, und zwar in ihrem bescheidenen Alltag, sind die Folgen des Sparkurses. Johnson hat in diesem Wahlkampf mehr als großzügige Geldmittel für das kränkelnde Gesundheitssystem versprochen. Dass er sich dabei in seinen eigenen Zahlen verhedderte und unglaubwürdig wirkte, schadete ihm wieder einmal nicht.
Zumindest gäbe es jetzt eine Chance, dass Johnson etwas mehr sozialliberal werde, traute sich der prominente BBC-Kommentator Simon Jenkins zu hoffen. Doch große politische Kurswechsel seien nicht zu erwarten, schon allein deshalb, weil der Premier noch nie einen dauerhaft stabilen Kurs gehalten habe. Ein langjähriger Parteikollege brachte das kürzlich gegenüber der deutschen Zeit auf den Punkt: „Fakt ist, seine Prinzipien sind so flexibel, dass er fast alles tun kann.“
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