Die Kluft zwischen Bürgern & Brüssel

EU-Parlament mit 751 Abgeordneten ist mächtiger Mitgesetzgeber.
EU-Recht entsteht demokratisch, doch die Menschen wollen besser gehört werden.
Die Kluft zwischen Bürgern & Brüssel
Mit dem scharfen Blick von außen hat Barack Obama bei seinem Abschiedsbesuch am alten Kontinent das Demokratie-Problem der EU angesprochen – und es auf den Punkt gebracht: "Die Welt braucht heute mehr denn je ein Europa, das stark, wohlhabend und demokratisch ist", sagte der scheidende US-Präsident bei seiner emotionalen Rede in Athen.

In Zeiten des wiederaufkeimenden Nationalismus müssten sich allerdings alle Institutionen in Europa fragen, wie sie den einzelnen Menschen das Gefühl vermitteln könnten, dass ihre Stimme gehört und ihre Lebensart nicht infrage gestellt werde und wichtige Entscheidungen nicht über ihre Köpfe hinweg getroffen würden.

Große Distanz

"Die Distanz zwischen dem normalen Menschen und den komplexen Brüsseler Vorgängen ist einfach zu groß", analysiert Stefan Lehne vom renommierten Thinktank Carnegie-Europe das sogenannte Demokratie-Defizit. Dabei ist formell jede EU-Entscheidung sogar doppelt demokratisch legitimiert: durch die Mitwirkung der gewählten Regierungen im Rat und durch die direkt gewählten Abgeordneten des Europäische Parlaments.

Doch warum empfinden dann so viele Bürger EU-Entscheidungen als undemokratisch und intransparent?

Die Kluft zwischen Bürgern & Brüssel
Stefan Lehne, Carnegie
Laut Lehne habe dieses Gefühl damit zu tun, dass in den vergangenen Jahren "die Trennlinien zwischen dem nationalen politischen Raum und der europäischen Ebene weggefallen sind. Entscheidungen auf EU-Ebene bestimmen innenpolitische Prozesse und nationale Entwicklungen wirken auf die europäische Ebene zurück".

Beispiele für dieses Wechselspiel gibt es genügend. Dazu gehören die EU-Beschlüsse zur Lösung des Finanz- und Schuldenproblems (Bankenunion, Limit für Bankerboni, Bankenabwicklung, Schuldenbremse, Fiskalpakt) oder jüngst die Vorgaben der EU, die Flüchtlingskrise (Asylstandards, Quotenregelung, Küstenwache und EU-Außengrenzschutz) in den Griff zu bekommen.

80 Prozent Mythos

Unbestritten ist, dass innerstaatliche Gesetze auf EU-Regelungen zurückgehen bzw. "von Brüssel vorgegeben" werden, wie es oft heißt. Während die EU-Vorgabe (EU-Verordnung) die nationalen Parlamente mehr oder weniger zum verlängerten Arm der EU werden lässt, besteht bei einer EU-Richtlinie noch erheblicher innenpolitischer Gestaltungsspielraum.

Die Kluft zwischen Bürgern & Brüssel
Als "Mythos" wird in einer Erklärung des Bayerischen Landtages die Annahme bezeichnet, wonach für 80 Prozent der Gesetze Brüssel verantwortlich sei. Die Verwaltung des Deutschen Bundestages geht jedoch nur von 30 Prozent nationaler Gesetzgebung aus, die von Brüssel bestimmt werden.

EU-Juristen sagen, dass es bei der Übernahme von EU-Recht nicht auf quantitative, sondern auf qualitative Aspekte ankomme. Zum Beispiel: Wenn eine neue EU-Datenschutzverordnung möglicherweise große Teile innerstaatlicher Gesetze obsolet machen würde, wäre das deutlich gravierender als viele kleine technische EU-Richtlinien im Rahmen des Binnenmarktes.

EU-Recht greift durch

Egal, von welcher Warte man sich nähert – von einem pro-europäischen oder einem EU-skeptischen Standpunkt –, selbst EU-Kritiker sagen, dass es keinen Politikbereich mehr ohne EU-Recht gebe. Binnenmarkt-Regelungen, die gemeinsame Agrarpolitik, Umwelt- und Konsumentenschutzbestimmungen, Regelungen der Wirtschafts- und Währungsunion, Teile der Innen- und Justizpolitik, Verkehr, etwa die umstrittene Pkw-Maut oder die Gleichstellung der Geschlechter – zu all diesen Bereichen werden Rechtsakte von den beiden EU-Institutionen Rat und Europäisches Parlament gemeinsam beschlossen. Genau genommen sind alle nationalen Gesetze vom EU-Recht beeinflusst, denn: die europäischen Verträge stehen vom Rang her über allen innerstaatlichen Gesetzen.

Von einem Verfassungskonvent träumen überzeugte EU-Befürworter. Das gegenwärtige politische Klima lässt den großen Wurf aber nicht zu. EU-Regierungschefs und die Spitzen der EU-Institutionen halten es derzeit nach Rainer Maria Rilke: „Die großen Worte aus den Zeiten, da Geschehen noch sichtbar war, sind nicht für uns. Wer spricht vom Siegen? Überstehn ist alles“ (aus: Requiem, 1908).

Kleinigkeiten sind aber möglich: „Unter der Ebene eines neuen EU-Vertrages sind aber viele sinnvolle Schritte denkbar“, sagt der Europa-Experte und ehemalige österreichische Spitzendiplomat Stefan Lehne. Bei den kleinen EU-Reformen wird es künftig mehr auf die politischen Inhalte als auf technische Details ankommen. „In einer Zeit immer größerer Verunsicherung muss die EU klarstellen, dass es nicht nur um Liberalisierung geht, sondern um den Schutz der Interessen der Bürger“, sagt Lehne zum KURIER.

Wenn die Bürger das Gefühl haben gehört zu werden, dürfte auch ihre Akzeptanz der EU gegenüber größer werden. Mehr Informationen und Diskussionen sind nötig – und hier müssen sich die europäischen Entscheidungsträger etwas mehr einfallen lassen als Sonntagsreden zu halten.

Nicht über EU-weite Bürgerinitiativen, sondern über das Internet könnten die Bürger von Finnland bis Italien und von Frankreich bis Lettland miteinbezogen werden.
Ändern müsste sich auch das Verhalten aller Regierungsmitglieder, die regelmäßig zu Treffen nach Brüssel fahren, hier EU-Gesetzen zustimmen und zu Hause nur äußerst selektiv darüber Auskunft geben. In diesen Erzählungen ist die EU immer der Sündenbock für unpopuläre Entscheidungen. „Die Verantwortung der Regierungen, EU-Politik zu erläutern und die Unterstützung der Öffentlichkeit dafür zu gewinnen, wird vernachlässigt“, urteilt Lehne. „Viele Politiker aus der politischen Mitte laufen den Populisten hinterher und profilieren sich selbst als EU-Skeptiker.“

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