Deutschlands Prozess des Jahres
Das ist ein Jahrhundertprozess. Es reicht nicht, die Beschuldigten zu verurteilen", brachte Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, die Stimmung in unserem Nachbarland in der Mitteldeutschen Zeitung auf den Punkt. Eineinhalb Jahre nachdem ein brennender Wohnwagen in der thüringischen Stadt Eisenach den größten Fall von Neonazi-Terror der deutschen Nachkriegsgeschichte zu Tage gefördert hatte, begann am Montag in München unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen der Prozess gegen Beate Zschäpe, sowie vier Mitangeklagte, welche die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund
Zschäpe verfolgte die Verhandlung am Montag gestützt auf einen Ellbogen, ließ sich das Geschehen von ihren drei Anwälten erklären und blickte zeitweise zu den überlebenden Opfern und den Hinterbliebenen der Ermordeten, denen sie erstmals begegnete. Nur wenige Minuten nach Beginn ist der Prozess wegen Zweifeln der Verteidigung am Richter für kurze Zeit unterbrochen worden. Zschäpe ließ von ihren Rechtsanwälten erklären, sie lehne den Vorsitzenden des Staatschutzsenats, Manfred Götzl, als befangen ab. Als Begründung führten sie an, Götzl habe eine eingehende Durchsuchung der Verteidiger vor dem Betreten des Gebäudes angeordnet, den übrigen Prozessbeteiligten diese Prozedur aber erspart. Götzl unterbrach daraufhin die Sitzung für Beratungen. Nach wenigen Minuten setzte er die Verhandlung fort. Über den Antrag soll zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden. Der Antrag wurde nach Angaben einer Gerichtssprecherin vorerst zurückgestellt.
Für Aufmerksamkeit sorgten auch die Namen von Zschäpes Verteidigern: Zschäpe nicht ohne Grund Verteidiger mit diesen Nachnamen ausgesucht hat: "Es ist doch nicht zu übersehen: Die Namen der drei Verteidiger, Heer, Stahl, Sturm, lesen sich, als habe sie Frau Zschäpe sich ausgesucht, um zu provozieren. Sicher ist das ist nicht zu beweisen. Aber es ist auch nicht auszuschließen, was in diesem Fall schon ausreicht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen", so die Zeitung.
mutmaßte am Montag, dass sichIn Alarmbereitschaft
Vor Prozessbeginn hat die Münchner Polizei die Sicherheitsvorkehrungen intensiviert. Rund 500 Polizisten sollen einen störungsfreien Prozess garantieren. Die Polizei habe derzeit keine Erkenntnisse über eine konkrete Gefahr - weder von rechten noch von linken Gruppen. Aufregung gab es jedoch vor Beginn des NSU-Prozesses. Bei einer Demonstration gegen Rassismus liefen zwei junge Frauen auf das Gerichtsgebäude zu und zerschmetterten Flaschen am Boden.
Zu den angekündigten Demos erwarteten die Veranstalter insgesamt rund 1.000 Teilnehmer. Das "Bündnis gegen Naziterror und Rassismus" erinnerte vor dem Gericht erneut an die Opfer der rassistisch motivierten Mordserie. Weitere Veranstalter haben unter dem Motto "Zeig Haltung - Gemeinsam gegen Rassismus" sowie "München bleibt bunt und wird nicht braun" zu Kundgebungen aufgerufen. Auch der Türkische Volksverein demonstrierte zum Prozessauftakt.
Volle Aufklärung gefordert
Indes zogen die Opferanwälte die Einschätzung in Zweifel, dass die Terrorgruppe nur aus drei besonders gefährlichen Rechtsextremen bestanden habe. Eine solche Vorstellung sei "schwer nachzuvollziehen", erklärten sieben Anwälte von Nebenklägern in dem Verfahren am Sonntag in München. Die Anwälte betonten zudem, ihre Mandanten erwarteten bei dem Prozess "maximale Aufklärung".
Zudem liege es nahe, "dass der NSU auch durch V-Leute, verdeckte Ermittler und andere Mitarbeiter der Nachrichtendienste - direkt oder indirekt - unterstützt worden ist", hieß es weiter in der Erklärung.
Die deutsche Bundesanwaltschaft hatte bei der Anklageerhebung mitgeteilt, den Ermittlungen zufolge habe der NSU aus drei Mitgliedern bestanden - aus Zschäpe und den beiden ums Leben gekommenen mutmaßlichen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die wahre Identität und die terroristische Zielsetzung der Gruppierung sei nur einem eng begrenzten Kreis von wenigen Unterstützern und Gehilfen bekannt gewesen.
Presse-Posse
Mehr und mehr zur Farce verkam dagegen die Vergabe der begehrten Presseplätze.
Die nun vergebenen 50 Plätze wurden schließlich im zweiten Anlauf per Losverfahren vergeben.
BEATE ZSCHÄPE: Die 38-Jährige tauchte 1998 gemeinsam mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt unter, um einer drohenden Festnahme zu entgehen. Die drei Neonazis aus dem thüringischen Jena gründeten eine Terrorgruppe und nannten sich spätestens ab 2001 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Zeugen beschreiben Zschäpe als gleichberechtigtes Mitglied; unter anderem soll sie das Geld verwaltet haben. Nach dem Tod ihrer Kumpane am 4. November 2011 setzte Zschäpe die gemeinsame Wohnung im sächsischen Zwickau in Brand und verschickte die Bekennervideos mit dem "Paulchen Panther"-Motiv. Am 8. November stellte sie sich der Polizei in Jena. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft, mittlerweile in München - und schweigt.
RALF WOHLLEBEN: Der ehemalige Thüringer NPD-Funktionär mit Kontakten zur militanten Kameradschaftsszene soll Waffen für das Trio organisiert haben. Der 38-Jährige wurde am 29. November 2011 verhaftet und sitzt in U-Haft. Nach Ansicht der Ermittler wusste er von den Verbrechen - er ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
CARSTEN S.: Der 33-Jährige hat gestanden, den Untergetauchten eine Pistole mit Schalldämpfer geliefert zu haben. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um die Waffe des Typs Ceska, die bei den Morden verwendet wurde. Er löste sich kurz darauf aus der Szene, lebte ab 2001 in Nordrhein-Westfalen und legte nach seiner Verhaftung im Februar 2012 ein umfangreiches Geständnis ab. Ende Mai kam er wieder auf freien Fuß. Er ist wie Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
ANDRÉ E.: Der gelernte Maurer (33) war seit dem Untertauchen 1998 einer der wichtigsten Vertrauten des Trios und soll die mutmaßlichen Rechtsterroristen zusammen mit seiner Frau regelmäßig besucht haben. Die Ermittler hielten ihn zunächst für den Ersteller des Bekenner-Videos. Als Zweifel daran aufkamen, ordnete der Bundesgerichtshof im Juni seine Freilassung an. E. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.
HOLGER G.: Der 38-Jährige gehörte wie Wohlleben und die drei Untergetauchten zur Jenaer Kameradschaft. Er zog 1997 nach Niedersachsen um. G. spendete Geld, transportierte einmal eine Waffe nach Zwickau und traf sich mehrfach mit dem Trio. Er überließ Böhnhardt einen Ersatzführerschein sowie 2001 und 2011 seinen Pass. Von Überfällen und Morden will er nichts gewusst haben. Nach der Verhaftung im Jänner 2012 kam er Ende Mai wieder auf freien Fuß. Auch G. ist als mutmaßlicher Unterstützer der Gruppe angeklagt.
DER VORSITZENDE RICHTER
MANFRED GÖTZL: Der 59-jährige Franke ist dafür bekannt, dass er sich strikt an Regeln hält. Er gilt als akribisch und fair, und mitunter auch als aufbrausend. Wer es diplomatisch ausdrückt, nennt ihn einen "emotionalen Richter", ein Münchner Jurist formuliert es hingegen so: "Er hat eine extrem kurze Zündschnur".
Götzl hat jedenfalls Erfahrung mit spektakulären Fällen. 2005 verurteilte er den Mörder des Modezaren Rudolph Moshammer zu lebenslanger Haft. 2009 sorgt er mit einer lebenslangen Haftstrafe für den damals 90-jährigen Ex-Wehrmachtsoffizier Josef Scheungraber für Aufsehen. Zeugen hatten sich nur vage an die Vorgänge rund um das Massaker 1944 an italienischen Zivilisten erinnert; die Verteidigung hatte Freispruch verlangt. Götzls Entscheidungen hatten fast immer Bestand: In sieben Jahren als Vorsitzender des Schwurgerichts kassierte der Bundesgerichtshof nur ein einziges seiner Urteile. 2010 übernahm Götzl den Staatsschutzsenat am OLG. Er verhandelte gegen acht Helfer der "deutschen Sektion" des Propagandanetzwerks "Globale Islamische Medienfront".
9. September 2000, Nürnberg: Der türkische Blumenhändler Enver Simsek (38) wird beim Arbeiten erschossen.
19. Jänner 2001, Köln: In einem iranischen Lebensmittelgeschäft explodiert ein Sprengsatz. Die 19-jährige Tochter des Inhabers wird schwer verletzt.
13. Juni 2001, Nürnberg: Mundlos und Böhnhardt erschießen den Türken Abdurrahim Özüdogru (49) in seiner Änderungsschneiderei.
27. Juni 2001, Hamburg: Der türkische Händler Süleyman Tasköprü (31) stirbt durch mehrere Kopfschüsse in seinem Lebensmittelgeschäft.
29. August 2001, München: Mundlos und Böhnhardt erschießen den türkischen Gemüsehändler Habil Kilic (38) in seinem Geschäft.
25. Februar 2004, Rostock: Die Rechtsterroristen töten den türkischen Imbissverkäufer Yunus Turgut (25).
9. Juni 2004, Köln: Die Terroristen zünden eine Nagelbombe vor einem türkischen Friseursalon in der Keupstraße. 22 Menschen werden zum Teil lebensgefährlich verletzt.
9. Juni 2005, Nürnberg: Ismail Yasar (50) wird in seinem Döner-Imbiss getötet.
15. Juni 2005, München: Der Grieche Theodoros Boulgarides (41) stirbt durch drei Kopfschüsse in seinem Schlüsseldienst-Laden.
4. April 2006, Dortmund: Mundlos und Böhnhardt töten den türkischstämmigen Kioskbetreiber Mehmet Kubasik (39).
6. April 2006, Kassel: Halit Yozgat (21) stirbt durch Schüsse in seinem Internet-Café.
25. April 2007, Heilbronn: Die Polizistin Michèle Kiesewetter (22) wird erschossen, ihr Kollege (24) überlebt schwer verletzt.
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