Deutschland: Neonazis marschieren wieder auf der Straße
Zwei Städte, zwei Vorfälle, die gleichen Bilder: In Chemnitz (Sachsen) und in Köthen (Sachsen-Anhalt) starben zwei Deutsche während bzw. nach einem Streit mit Asylwerbern. Obwohl der Tathergang in beiden Fällen noch nicht geklärt ist, kam es zu rechten Aufmärschen mit mehreren tausend Teilnehmern: Neonazis hoben die Hand zum Hitlergruß, andere skandierten ausländerfeindliche Parolen, attackierten am Rande der Demonstrationen Ausländer, Journalisten und Polizisten. Und mitten unter ihnen: Bürger, die eigentlich nicht der rechten Szene angehören, aber kein Problem damit hatten, neben ihnen herzumarschieren. Wie konnte das passieren?
Johannes Kiess von der Universität Siegen, Mitherausgeber der „Leipziger 'Mitte' Studie“, die alle zwei Jahre rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung erhebt, ortet einen Tabubruch: Rechtes Gedankengut hat sich im Laufe der Jahre nicht weiter verbreitet, aber es hat sich radikalisiert – „und wird jetzt offener auf die Straße getragen“. Es gab schon immer einen latenten Anteil an Rechtsextremismus in der Bevölkerung, erklärt Protestforscher Dieter Rucht, dieser liege etwa bei zehn bis 20 Prozent. „Dieses Potenzial ist nicht groß an die Öffentlichkeit getreten. Es war da, blieb aber weitgehend unsichtbar.“
Das hat sich „dramatisch verändert“, etwa mit dem Aufstieg und der Radikalisierung der AfD „von einer wirtschaftsliberalen zu einer rechten Partei bis rechtsradikalen Partei“, erklärt Rucht. Dadurch sind auch rechtsextreme Gruppen an die Oberfläche gekommen, die im Schatten der AfD standen: „Sie treten selbstbewusster auf.“
Neue Grenzen des Sagbaren
Was auch dazu führte, dass sich Menschen heute sicherer fühlen, ihr rechtes Gedankengut und ihre Ressentiments frei zu äußern. Vorangetrieben hat dies besonders die AfD, erklärt Rechtsextremismusforscher Kiess. „Sie verschieben die Grenzen des Sagbaren.“ Das fängt meist mit einer provokanten Aussage an: Wenn etwa der Chef des „völkischen Flügels“ der AfD, Björn Höcke, das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet oder Parteichef Alexander Gauland den Nationalsozialismus als „Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ verharmlost. Auf die darauffolgende öffentliche Empörung folgt meist Relativierung. Ihr Ziel: Sie besetzen die öffentliche Debatte.
„Kampf um die Köpfe“, so nennt Protestforscher Rucht diese Strategie, die ursprünglich von der mittlerweile bedeutungslosen NPD propagiert wurde. Zu ihrer Strategie gehörte auch der Kampf auf den Straßen sowie um die Parlamente: All das vollzieht sich derzeit als Entwicklung mit der AfD, beobachtet Rucht.
Dass die Rechtspopulisten in Chemnitz offensichtlich den Schulterschluss mit der islam- und fremdenfeindlichen Bewegung Pegida und anderen rechtsradikalen Gruppierungen gesucht haben, zeugt von einer Annäherung, die beiden nützlich ist, erklärt Rucht: Die AfD sitzt in den Parlamenten, tritt öffentlichkeitswirksam auf und hat als größte Oppositionspartei viel Geld für Infrastruktur, das auch zu politischer Propaganda genutzt wird. Auf der anderen Seite profitiert die AfD von den Gruppierungen, weil sie Menschen mobilisieren. „So entsteht der Eindruck, es gibt massive Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die Leute haben das Gefühl, sie müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen.“
Systemsturz als Ziel?
Was ist das Ziel dieser Kooperation? Der Umsturz? „Es wird nicht von Gewalt gesprochen, aber es muss Druck von der Straße kommen und man muss sich dem Staat entgegenstellen, das ist Teil ihres Konzepts“, erklärt Soziologe Kiess. Während sich Politiker wie Gauland vage halten, zu einer „friedlichen Revolution“ aufrufen, ist der „völkische Flügel“ um Höcke weniger zurückhaltend. „Da wird die Denkfigur des Widerstands bemüht, der zu leisten sei, wo Recht zu Unrecht wird – das signalisiert: Wir akzeptieren dieses System und alles was dazugehört wie Gewaltenteilung und Kompromissbereitschaft nicht“, erklärt Rucht. Diese Entwicklung bereite ihm zwar Sorge, dennoch würde er sie nicht mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen wie in der Weimarer Republik (1918-1933) vergleichen. „Wir haben eine relativ starke politische Mitte sowie linksliberale Gruppen, die dagegen halten.“
Dennoch werden die Rechten und ihre radikalen Unterstützer nicht einfach aufgeben, weiß Soziologe Johannes Kiess. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass jedes ähnliche Ereignis wie in Chemnitz oder Köthen instrumentalisiert wird.“ Das einzige, was solche Dynamiken brechen kann, ist ein schnelles Eingreifen von Polizei und Behörden. „Diese Menschen sind autoritär eingestellt und was sie erstmals verstehen, ist, wenn ihnen ein starker Staat Grenzen aufzeigt.“ Dann komme es auf die Politik und Gesellschaft an, die letztlich investieren müssen: in Lehrer und Polizisten.
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