Warum Deutschland wegen seiner Kolonialverbrechen vor Gericht steht

Seit heuer hat Namibia einen neuen Staatsfeiertag: den 28. Mai. Im Rahmen eines Staatsaktes wurden weiße Kerzen angezündet, um an den Völkermord der deutschen Kolonialmacht an über 70.000 Menschen der Herero und Nama, die sich gegen die koloniale Repression und Landnahme wehrten, zu erinnern. Präsidentin Netumbo Nandi-Ndaitwah nutzte den symbolträchtigen Tag für deutliche Worte: "Wir müssen als Nation entschlossen bleiben und weiterkämpfen" – solange, bis das Wort "Reparationen" fällt. Im November stehen Lokalwahlen in Namibia an, und die seit Jahrzehnten regierende SWAPO verliert an Zuspruch.
In Deutschland wiederum schließt CDU-Kulturminister Wolfram Weimer aus, die Kolonialverbrechen in die deutsche Erinnerungskultur aufzunehmen, erntet dafür Applaus von Rechtsaußen: Im Vorjahr hatte ein AfD-Politiker auf einem Massengrab der Herero einen Kranz für den General abgelegt, der den Völkermord angeordnet hatte.
Die Debatte um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte eignet sich bestens für Kulturkämpfe und Beliebtheitspunkte bei der Wählerschaft. Die Gruppe, um die es eigentlich geht, nämlich die Nachkommen der Herero und Nama, haben das Gefühl, dazwischen unterzugehen. Und ziehen deshalb gemeinsam mit Oppositionellen vor den Obersten Gerichtshof in der namibischen Hauptstadt Windhoek. Der Prozess startet am Dienstag.

Präsidentin Netumbo Nandi-Ndaitwah am 28. Mai 2025 im Garten des Parlaments in Windhoek.
"Wiederaufbau" statt "Wiedergutmachung"
Über ein Entschuldigungsabkommen für die deutschen Kolonialverbrechen streiten Namibia und die Bundesrepublik seit 2015 – damals fiel erstmals das Wort Völkermord im Bundestag. Seitdem wird eine "Gemeinsame Erklärung" verhandelt. Seit 2021 steht der finale Entwurf, doch die Zustimmung der namibischen Regierung fehlt – genauso wie der Begriff "Wiedergutmachung". Stattdessen ist in der Erklärung von "Wiederaufbauhilfe" die Rede.
Dass Deutschland eine Vertretung zum Prozess schickt, ist unwahrscheinlich. Denn die Bundesrepublik versucht, die Debatte darüber so klein wie möglich zu halten.
Bis 1914 hatte sich das Deutsche Reich flächenmäßig zur drittgrößten Kolonialmacht erhoben, kontrollierte Gebiete der heutigen Länder Namibia, Botswana, Burundi, Mosambik, Ruanda, Tansania, Togo, Ghana, Kamerun, Gabun, der Republik Kongo, Nigeria, Tschad, der Zentralafrikanischen Republik, Papua-Neuguineas und China.
Namibia war von 1884 bis 1915 eine deutsche Kolonie (Deutsch-Südwestafrika). Aufstände der Völker der Herero und Nama zwischen 1904 bis 1908 schlugen die deutschen Kolonialtruppen brutal nieder, bis zu 100.000 Menschen starben. Der damalige deutsche Gouverneur Lothar von Trotha ordnete nachweisbar die planmäßige Vernichtung der Volksgruppen an. Die Menschen wurden in Internierungslager gesteckt, für die auch der Begriff "Konzentrationslager" gebraucht wurde. Sie wurden am 28. Mai 1908 geschlossen – seit 2024 ein Feiertag in Namibia.
Angst vor Präzedenzfall
"Deutschland will um jeden Preis verhindern, einen Präzedenzfall für die Forderungen anderer Staaten zu schaffen", erklärt der deutsch-namibische Politikwissenschafter Henning Melber vom Nordic Afrika Institute in Uppsala. Mit der Forderung nach Entschädigungen für den deutschen Überfall auf Polen 1939 hatte jüngst der polnische Präsident Karol Nawrocki Wahlkampf gemacht – und gesiegt.
Deutschland geht deswegen in der Formulierung der Erklärung besonders sorgfältig vor, um sich vor jeglichen Rechtsansprüchen auf Reparationszahlungen abzusichern: Die Rede ist von einem Völkermord "aus heutiger Sicht". Die UN-Konvention zur Definition von Völkermord wurde erst 1948 verabschiedet; Deutschland beruft sich darauf, dass es zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft keinen Tatbestand des Völkermords gegeben hat. Zahlungen für Verbrechen vor Annahme der Konvention, auch die an Nachkommen von Holocaust-Opfern, versteht die Bundesrepublik als freiwillige Leistungen und politisch-moralische Verpflichtungen. "Ein Teil der betroffenen Bevölkerungsgruppe unterstellt Deutschland deswegen Rassismus und zweierlei Maß", so Melber.
1,1 Milliarden Euro bietet Deutschland als "Geste" an, in Form von bilateraler Entwicklungshilfe den nächsten 30 Jahren in Namibia zu investieren, zusätzlich zu den in den jeweiligen Jahresbudgets eingeplanten Geldern. Das ist in etwa so viel, wie Namibia bisher von Deutschland in Form finanzieller Entwicklungshilfe erhalten hat, und ein Zehntel von dem, was Deutschland in das Hyphen-Wasserstoffprojekt in Namibia investieren will, um grünen Wasserstoff für den deutschen Markt zu produzieren.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfing den damaligen namibischen Präsidenten Nangolo Mbumba am 8. Oktober 2024 in Berlin.
Ungleiche Landverteilung
Die Kläger fühlen sich von dieser "Hilfe" vor den Kopf gestoßen. Sie fordern, dass der Entwurf für ungültig erklärt wird, und ihnen mehr Mitspracherecht in den Verhandlungen einzuräumen.
Viele Herero und Nama – sie machen heute weniger als zehn Prozent der Bevölkerung aus – fühlen sich von der Regierung nicht repräsentiert. Die wird mehrheitlich von der im Norden des Landes lebenden Bevölkerung unterstützt, die von der Landnahme der deutschen Siedler weniger betroffen war als die Bevölkerung im Süden.
Das Abkommen ändert wenig an den Folgen der Kolonialzeit, mit denen die drei Millionen Menschen nach wie vor leben, sagt Melber: "Die Hälfte des Landes ist kommerziell genutztes Farmland. Von diesem ist 70 Prozent im Besitz der weißen Bevölkerung. Das bedeutet, 35 bis 40 Prozent des gesamten Landes sind in der Hand einer Bevölkerungsgruppe, die weniger als fünf Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmacht." Melber, selbst Sohn deutscher Einwanderer und in Namibia aufgewachsen, betont: "So wird die Wahrnehmung, dass der Kolonialismus weiterbesteht, reproduziert."
Einige aktivistische Gruppen fordern deswegen, dass Deutschland das Land, das sich derzeit in Besitz der deutschsprachigen Bevölkerung befindet, zurückkauft und es an die Nachkommen der Herero und Nama zurückgibt.
Der Ausgang des Prozesses ist weniger richtungsweisend als die Tatsache, dass am Dienstag zum ersten Mal eine ehemalige Kolonialmacht vor einem Gericht in der früheren Kolonie steht; das dürfte die Diskussionen in anderen europäischen Ländern über die eigene koloniale Aufarbeitung befeuern.
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