Letzte Ausfahrt Würselen
Der Martin, ach. Den kennt man hier, man nennt ihn beim Vornamen; aber reden will eigentlich keiner mehr über ihn. Und ihm zujubeln? Ach, nee, auch nicht.
Würselen, im äußersten Westen der Bundesrepublik, Belgien, die Niederlande ums Eck, die Grenze zum Greifen nah. 35.000 Einwohner hat die Stadt, und ihr berühmtester hat heute einen Auftritt: Martin Schulz, SPD-Chef und Kanzlerkandidat, macht Wahlkampf auf Burg Wilhelmstein, denn am Sonntag wird gewählt. Der "Gottkanzler" in fürstlicher Kulisse, die "Weltmacht aus Würselen" in der Heimat. Das Bild könnte stimmiger nicht sein. Oder?
Nun ja, oder. So richtig passt das Bild des "roten Retters" nämlich nicht mehr, denn die Umfragen gehen schon wieder bedrohlich nach unten. Und selbst in Würselen ist man müde: "Ich will nicht über ihn reden" sagt die Buchhändlerin in dem Laden, den Schulz hier vor Jahrzehnten geleitet hat; zu jener Zeit, als er alkoholkrank war, bevor er in die große Politik wechselte. Die Fragerei nerve: "Das geht jetzt schon seit Ewigkeiten so." Gegenüber, im Nikolas Grill, da spricht man zwar noch ein bisschen lieber: Ein "super Kerl" sei er, der Ex-Bürgermeister der Stadt, sagt Riad Stehle, der Chef, und wirft Pommes in die Fritteuse. Aber ob er darum auch zur Burg geht? "Nee. Aber ich drück’ ihm die Daumen."
Kleine, große Wahl
Freilich, um Schulz geht es am Sonntag eigentlich nicht, es geht um Nordrhein-Westfalen (NRW), und darum, ob die SPD mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft stärkste Partei bleibt. Aber dass das nicht nur ein bisschen, sondern sehr viel mit Schulz zu tun hat, lässt nicht verleugnen: Es ist nicht nur sein Bundesland, es ist das SPD-Land. "Kleine Bundestagswahl" wird der Urnengang im seit 50 Jahren fast durchgehend rot regierten NRW genannt. Und ja: 13,1 Millionen Wahlberechtigte leben hier, 22 Prozent aller Deutschen, wer es hier nicht schafft, schafft es auch in Berlin nicht.
Schulz selbst hat das vor ein paar Wochen selbst gesagt und damit, fast ein bisschen prophetisch, seine eigene Fallhöhe vorgegeben. Wenn NRW rot bleibe, werde er Kanzler, das sei fix. Dass das auch fürs Gegenteil zutrifft, wissen sie bei der CDU natürlich, und darum ist man in Hochstimmung: CDU-Chef Armin Laschet liegt in Umfragen knapp vor Landesmutter Kraft; dass man Angela Merkel nach Schulz’ Auftritt ins benachbarte Aachen holt, in die Heimat des ersten deutschen Kaisers, hat da fast etwas Hämisches. Vor ein paar Monaten noch hätte man Merkel lieber versteckt, als sie im Wahlkampf einzusetzen; jetzt, da die CDU zwei gewonnene Landtagswahlen hinter sich hat, zieht sie wieder.
"Die schafft das"
Warum sich das alles so gedreht hat? Eine Antwort ist wohl die, dass die SPD in NRW keine wahnsinnig gute Bilanz vorzulegen hat; gerade beim CDU-Thema innere Sicherheit ging viel schief, siehe die Causa Amri und die Kölner Silvesternacht. Die andere kann man bei Schulz selbst suchen. Dass er auf der Bühne von Gerechtigkeit redet, "meine Freundin aber trotz Chemie-Doktorats seit zwei Jahren keinen Job findet", ärgert einen jungen Mann im Publikum; und auch unter Merkels Zusehern in Aachen hört man das oft. "Eine Luftpumpe" sei er, sagt Hans-Dieter Retterrath; Merkel sei ihm zwar auch nicht wahnsinnig sympathisch, aber ihre Rede, ja, die war gut. "Die CDU wird am Sonntag gewinnen", sagt auch das Ehepaar Kutsch ein paar Meter weiter. Und Merkel? "Die schafft das auch."
Passend dazu spielen sie für Merkel das Lied "Ein Hoch auf das, was vor uns liegt." In Würselen hat die Band für Schulz "Midnight train, going anywhere" im Repertoire; die Assoziation mit dem irrlichternden Schulz-Zug ist hoffentlich unbeabsichtigt. "Don’t stop believing", heißt es darin. Daran wird Schulz sich wohl auch festhalten müssen.
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