"Deutschland ist kein starkes Land mehr": Pressestimmen zum Ampel-Aus
Die deutsche Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist nach knapp drei Jahren im Amt gescheitert. Finanzminister Christian Lindner (FDP) wurde Mittwochabend von SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz nach einem Zerwürfnis entlassen. Nachfolger wird Jörg Kukies. Der Bruch war nach einem erbitterten Richtungsstreit vor allem über den künftigen Kurs in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik erfolgt.
Zum ersten Mal seit 2005 gibt es nun wieder eine rot-grüne Regierung, allerdings ohne Mehrheit im Parlament. Scholz will die Vertrauensfrage im Bundestag am 15. Jänner stellen und dann eine vorgezogene Wahl Ende März herbeiführen. Oppositionsführer Friedrich Merz forderte Scholz auf, die Vertrauensfrage "spätestens Anfang nächster Woche" zu stellen. Dann könne im Jänner gewählt werden.
Wie internationale Medien das Ampel-Aus kommentieren.
"Ein befremdliches Schauspiel"
Neue Zürcher Zeitung (Schweiz): "Olaf Scholz bleibt sich auch im Niedergang treu. Während der Kanzler den liberalen Finanzminister Christian Lindner am Mittwochabend bei seiner Pressekonferenz in Berlin als kleinkarierten und vertrauensunwürdigen Taktierer beschimpft und aus der Regierung wirft, klopft er sich selbst auf die Schultern. Es ist ein befremdliches Schauspiel. Zum Glück ist es bald vorbei. (...) 'Deutschland ist ein starkes Land', behauptet Scholz. Es ist nicht die einzige kolossale Fehleinschätzung dieses Abends."
Corriere della Sera (Mailand): "Und am Ende war es Olaf Scholz, der Christian Lindner feuerte. Als die Dinge entschieden waren, als die Falle für die Liberalen zuschnappte, als die Weichen für ihr Ausscheiden aus der Regierung gestellt waren, war es der Kanzler, der ihnen mit Stolz und Vorfreude das Vergnügen nahm, die Tür zuzuschlagen. Der Kanzler entließ seinen eigenen Finanzminister und beendete die Ampel-Regierung - die zweitkürzeste Regierung in der deutschen Geschichte. Immerhin schaffte es Scholz, diesen unrühmlichen Rekord nicht zu knacken. (...)
Letztlich zahlt Scholz für seine Unfähigkeit, einem Experiment, das Deutschland modernisieren sollte, eine Identität und eine Richtung zu geben. Er hatte kein Glück, denn sofort brach der Ukraine-Krieg mit all seinen Folgen für Deutschland aus.(...) Nun ist es an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Krise von Schloss Bellevue aus zu steuern - so wie es im italienischen Präsidentenpalast oft passierte. Deutschland scheint mit der Krise ein italienisches Schauspiel nachzuspielen, das hierzulande bisher noch niemand gespielt hat."
"Deutsche Regierung in der Krise"
De Standaard (Brüssel): "Just in dem Moment, in dem Donald Trump in den USA Wahlen gewinnt - was für Europa und Deutschland turbulente Zeiten bedeutet - steckt die deutsche Regierung in der Krise. Nach dem Treffen der drei Regierungsparteien am Mittwochabend erklärte ein wütender Bundeskanzler Olaf Scholz, dass eine Zusammenarbeit mit dem liberalen Finanzminister Christian Lindner nicht mehr möglich sei. (...)
Scholz will - wie der grüne Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck - eine Politik betreiben, die Geld kostet. Er will Fördermittel vergeben, um die hohen Energiekosten zu senken, Arbeitsplätze zu retten, Investitionsprämien auszureichen und zu garantieren, dass die Ukraine nicht auf sich allein gestellt ist.
Die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus war für Scholz ein zusätzlicher Grund, Geld für die Stärkung Deutschlands auszugeben. Er hatte Lindner vorgeschlagen, die Schuldenbremse zu lösen, um diese hohen Kosten zu finanzieren. Doch Lindner, der die deutsche Tradition eines ausgeglichenen Budgets verteidigte, wollte dem nicht zustimmen. (...) Lindner kehrte zu dem liberalen Konzept zurück, dass den Unternehmen so viel Freiheit wie möglich gegeben werden sollte, damit die Wirtschaft wachsen kann. Das ist eine andere Vision als die, die dem Koalitionsvertrag 2021 zugrunde lag."
Tages-Anzeiger (Zürich): "Habecks Argument, dass bei einem Wahlsieg Donald Trumps die Bundesregierung umso dringlicher zusammenstehen und Stabilität beweisen müsse, hatte Lindner schon in den vergangenen Wochen wenig abgewinnen könnte. Vielleicht, so sinnierte er kürzlich im kleinen Kreis, wäre eine Neuwahl des Bundestags im Frühjahr viel sinnvoller, weil Trump dann noch dabei sei, seine Regierung zusammenzustellen. Werde dagegen regulär im Herbst gewählt, sei Deutschland praktisch den gesamten Sommer über im Wahlkampfmodus und handlungsunfähig - und damit just in dem Moment, in dem Trump womöglich erste weitreichende Entscheidungen in der Sicherheits-, Wirtschafts- und Handelspolitik fälle."
La Repubblica (Rom): "Was für ein Timing: Die Regierung von Olaf Scholz ist gescheitert. Gestern Abend scheiterte der Dreiergipfel Scholz-Lindner-Habeck im Kanzleramt, ein von vielen seit Sonntag. Nach der schockierendsten Wahl des Jahres in den USA und dem Sieg von Donald Trump ist es dem sozialdemokratischen Kanzler nicht gelungen, seine ausgefranste und mitgenommene Ampel-Koalition zusammenzuhalten. Die Exekutive hat ein Stück verloren: Scholz wird gezwungen sein, ohne die FDP zu regieren. Und nun steht bald eine Neuwahl bevor. (...)
Einen schlechteren Zeitpunkt, um die Bürgerinnen und Bürger Deutschland zur Wahl zu schicken, kann man sich kaum vorstellen: Donald Trump war wenige Stunden zuvor ins Weiße Haus wiedergewählt worden, und es gibt kein Land in Europa, in dem er sich schon während seiner ersten Präsidentschaft feindseliger gezeigt hat. So sehr, dass der dritte Teilnehmer des Gipfels, der Grüne Robert Habeck, bis zuletzt an das Verantwortungsbewusstsein seines FDP-Kollegen appelliert hatte. Geholfen hat es nicht."
La Stampa (Turin): "Am Ende scheiterte die Regierungsmehrheit, und seit gestern Abend ist Deutschland politisch zur 'lame duck', zur lahmen Ente, geworden, mit einer Regierung, die wahrscheinlich nicht regierungsfähig ist und deren Schicksal besiegelt scheint. All das geschah, während die ganze Welt abwesend war und den Verlauf der schockierenden US-Wahl analysierte. (...) Der Stein des Anstoßes war Christian Lindners 18-seitiges Dokument für eine wirtschaftliche Wende, von dem er glaubte, dass es gut für Deutschland sei.
Aber mit der Zeit wurde klar, dass er nicht verhandeln, sondern ein Ultimatum stellen wollte: Entweder ihr macht, was ich sage, oder alles bricht zusammen. Insider behaupten, Lindner habe schon vor Tagen entschlossen, der Regierung ein Ende zu setzen, vielleicht, weil ihn die Sirenen eines möglichen Bündnisses mit der CDU von Friedrich Merz lockten, die seinem eindeutig neoliberalen Dokument Beifall gezollt hatte. Vielleicht aber auch, weil er aus einer dramatischen Konsenskrise in seiner Partei möglichst ehrenhaft hervorgehen wollte."
De Telegraaf (Amsterdam): "Ausgerechnet einen Tag, nachdem die Vereinigten Staaten mehrheitlich 'America First' gewählt haben, steckt das größte EU-Land samt einem stotternden Wirtschaftsmotor in einer großen politischen Krise. (...) Mit der Entlassung des FDP-Finanzministers scheint das wichtigste Land der Eurozone auf einen politischen Alptraum zuzusteuern. Eine bei den Wählern ungeliebte Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen wird nun als Minderheitsregierung weitermachen, und in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 werden Neuwahlen organisiert.
Die Probleme sind nicht nur innenpolitischer Natur: Mit der Wahl von Donald Trump in Amerika ist auch die deutsche Außenpolitik unter Druck geraten. Berlin fragt sich verzweifelt, wie es mit der EU, der NATO und dem Krieg in der Ukraine weitergehen soll. Washington und Berlin leisten bisher mit Abstand am meisten Militär- und Finanzhilfe für Kiew, aber Trump wird seine Verbündeten unter Druck setzen, mehr zu tun."
"Timing könnte nicht dramatischer sein"
Verdens Gang (Oslo): "Die Regierung in Deutschland zerbröselt. Am selben Tag, an dem Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewonnen hat, herrscht im größten und wichtigsten Land der EU Regierungskrise. Das Timing könnte nicht dramatischer sein, aus klimapolitischer Sicht könnte es kaum schlechter sein. Eine Regierungskrise im normalerweise so stabilen Deutschland, während die US-Wähler gleichzeitig für einen rechtsradikalen und unberechenbaren Präsidenten gestimmt haben, ist ein Szenario mit sehr dramatischen Untertönen. Wir stehen im Westen nun vor einem großen politischen Paradigmenwechsel. Vielleicht dem grundlegendsten seit dem Fall der Mauer. Wir leben gewiss in interessanten Zeiten."
The Guardian (London): "Insider in der Regierung hatten vermutet, dass der Wahlsieg von Donald Trump die Gemüter in Berlin beruhigen und die Spitzen von Sozialdemokraten, Grünen und FDP dazu zwingen würde, die Notwendigkeit der Einigkeit zu erkennen. Aber die Zwietracht und der Groll in Berlin schien kein Einlenken zu ermöglichen. (...) Nun wird erwartet, dass die Auswirkungen (des Koalitionsbruchs) Deutschland in eine längere Phase der Unsicherheit stürzen werden. Und das zu einer Zeit, in der die europäischen Staats- und Regierungschefs versuchen, angesichts von Herausforderungen wie einem möglichen Handelskrieg mit den USA an einem Strang zu ziehen.
Als zweitgrößter Unterstützer der Ukraine nach den USA muss Deutschland befürchten, dass es einen weitaus größeren Teil der Kriegsanstrengungen übernehmen muss, wenn Trump seine Drohung wahr macht, die Unterstützung für Kiew zu reduzieren."
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