AfD zweitstärkste Partei im Osten Deutschlands
Absturz der großen Parteien, spektakulärer Einzug der AfD in den Bundestag: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wird wohl nur mit FDP und Grünen weiterregieren können. Union und SPD verloren bei der Bundestagswahl am Sonntag laut Hochrechnungen über 14 Prozentpunkte. SPD-Chef Martin Schulz kündigte umgehend den Gang in die Opposition an.
Die CDU/CSU verbuchte zwar erneut die meisten Stimmen, kam aber auf das schlechteste Ergebnis seit 1949. Die rechtspopulistische AfD wurde mit 13 Prozent drittstärkste Kraft, mit ihr sitzt erstmals eine Partei rechts von der Union im Parlament. Die FDP zog nach vier Jahren Abwesenheit mit etwa zehn Prozent wieder in den Bundestag ein. Die Linkspartei und die Grünen kamen jeweils auf rund neun Prozent, für die Grünen ihr bisher zweitbestes Ergebnis.
Merkel sagte, die Union habe ihre strategischen Ziele erreicht. "Wir sind stärkste Kraft, haben den Auftrag, eine Regierung zu bilden, und gegen uns kann keine Regierung gebildet werden", sagte Merkel vor Anhängern. In der "Berliner Runde" bei ARD und ZDF kündigte Merkel an, auf die Parteien zuzugehen. "Wir leben in stürmischen Zeiten", sagte die Kanzlerin. Deshalb appelliere sie an alle Beteiligten, ihre Verantwortung auch wahrzunehmen. Eine Minderheitsregierung schloss Merkel aus. Auf die Frage, ob eine Regierungsbildung bis Weihnachten möglich sei, sagte sie: "Ich bin generell immer zuversichtlich. Und außerdem: Seit vielen Jahren habe ich das Motto: in der Ruhe liegt die Kraft."
CSU-Chef Horst Seehofer zeigte sich enttäuscht. Auch in Bayern kam die AfD auf mehr als zwölf Prozent, die CSU rutschte unter die 40-Prozent-Marke. Der Ministerpräsident sagte, er werde als Konsequenz die "offene rechte Flanke" schließen, und zwar "mit klarer Kante und klaren politischen Positionen". Bayern wählt im nächsten Jahr einen neuen Landtag. Bei der Bundestagswahl 2013 war die Union noch auf 41,5 Prozent gekommen.
Schulz kündigte an, die SPD werde eine starke Opposition sein. Dies könne man nicht der AfD alleine überlassen, deren Ergebnis für Deutschland eine Zäsur sei: "Damit ist die Rolle für uns ganz klar, wir sind die Partei der Opposition." Merkel warf er vor, eine "große Verantwortung" für den AfD-Erfolg zu haben. "Ich glaube, dass Frau Merkel einen Wahlkampf geführt hat, der skandalös war." Die Kanzlerin habe durch Politikverweigerung jenes Vakuum entstehen lassen, in das die AfD vorgestoßen sei. Ihr bisher schlechtestes Ergebnis hatte die SPD 2009 mit 23,9 Prozent eingefahren.
Nach der ZDF-Hochrechnung von 21.00 Uhr erhielt die Union 32,8 Prozent der Stimmen nach 41,5 Prozent 2013. Die SPD sackte auf 20,7 (2013: 25,7) Prozent. Mit 13,2 Prozent wird die AfD, die 2013 mit 4,7 Prozent knapp den Einzug ins Parlament verpasst hatte, drittstärkste Kraft. Die 2013 mit 4,8 Prozent ebenfalls knapp gescheiterte FDP zieht mit 10,4 Prozent wieder in den Bundestag ein. Die Linkspartei erhält 9,0 (8,6) Prozent, die Grünen verbessern sich auf 9,1 (8,4) Prozent.
Wegen des komplizierten deutschen Wahlsystems war die genaue Mandatsverteilung unklar. Eine Hochrechnung der ARD ging von 690 Mandaten aus, darunter 92 Überhang- und Ausgleichsmandate. Demnach kommt die Union auf 239 Sitze, die SPD auf 150. Die AfD erringt demnach 94 Mandate, die FDP 77. Grüne und Linke bekommen jeweils 65 Sitze im neuen Bundestag. Eigentlich hat der Bundestag nur 598 Sitze. Den bisher größten Bundestag gab es 1990 mit 672 Sitzen.
Die FDP ist nach Angaben ihres Spitzenkandidaten Christian Lindner bereit für Gespräche über eine Regierungskoalition. "Wir sind nicht zum Regieren verdammt, aber wir sind natürlich bereit, Verantwortung zu übernehmen", sagte Lindner in der "Berliner Runde". "Es geht darum, die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland in aufgeregten Zeiten zu sichern." Die Grünen werden nach Aussage ihres Spitzenkandidaten Cem Özdemir in einer möglichen Koalition mit Union und FDP keinen "anti-europäischen Populismus" mitmachen. Er nannte im ZDF zudem den Klimaschutz und eine Politik für eine gerechte Gesellschaft als Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung der Grünen.
AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland kündigte einen harten Konfrontationskurs gegen die neue Regierung an. "Die Bundesregierung, wie immer sie aussieht, kann sich warm anziehen, wir werden sie jagen", sagte Gauland am Sonntagabend vor Anhängern. "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen." Parteichef Jörg Meuthen wies in der "Berliner Runde" den Eindruck zurück, es gebe in seiner Partei rechtsradikale Tendenzen. Der Zentralrat der Juden sieht den Wahlerfolg der AfD mit Sorge. "Eine Partei, die rechtsextremes Gedankengut in ihren Reihen duldet und gegen Minderheiten in unserem Land hetzt, ist jetzt nicht nur in fast allen Länderparlamenten, sondern auch im Bundestag vertreten", sagte Präsident Josef Schuster.
In einer ARD-Analyse gaben 66 Prozent der Befragten an, die SPD habe sich nicht klar gegen Merkel positioniert, 59 Prozent finden Schulz nicht überzeugend. Merkel allerdings spaltet die Wähler weit mehr als noch vor vier Jahren: 55 Prozent gaben an, unter ihrer Kanzlerschaft seien die Sorgen der Menschen nicht ernst genug genommen worden. 51 Prozent stimmten der Aussage zu, dass zwölf Jahre Merkel ausreichend seien.
Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) gratulierte der deutschen Kanzlerin zum Wahlsieg, wertete das Abschneiden von CDU, SPD und AfD aber als Zeichen, "dass man Probleme nicht ignorieren" dürfe, sondern "konkrete Lösungen anbieten" müsse. Kurz unterließ in seiner Stellungnahme eine Gratulation an die Chefin der ÖVP-Schwesterpartei und wertete das Wahlergebnis als "wenig überraschend". "Es gibt in Deutschland bei vielen Unzufriedenheit mit der Position der Regierung in der Flüchtlingspolitik", schrieb Kurz.
FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky feierte das Wahlergebnis der AfD. "AfD großer Sieger auf Platz 3! Herzliche Gratulation aus Wien!", schrieb der Europaabgeordnete auf Twitter. Die Grüne Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek bezeichnete den Parlamentseinzug der "rechtsradikalen Partei" AfD als "besorgniserregend". Das Ergebnis der deutschen Grünen gebe dagegen Hoffnung. NEOS-Chef Matthias Strolz gratulierte sowohl der deutschen Schwesterpartei FDP als auch Kanzlerin Merkel und äußerte die Hoffnung auf ein Mehr an Freiheit und Verantwortung sowie eine Weiterentwicklung des europäischen Projekts.
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