Weiblich, männlich oder "divers": Drittes Geschlecht in Deutschland
Vanja trägt Bart, aber im Reisepass und in der Geburtsurkunde steht ein F für female, weiblich. Dabei ist Vanja, der Name ist ein Pseudonym, weder Mann noch Frau, sondern intersexuell – also zwischen den Geschlechtern geboren. Das Fazit einer gynäkologischen Untersuchung: Vanja hat einen atypischen Chromosomensatz. Nach Schätzungen gibt es zirka 80.000 Intersexuelle in Deutschland, also Menschen, die sich genetisch, hormonell oder anatomisch nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen lassen und oft die Merkmale beider Geschlechter aufweisen. Mediziner vermuten, dass es etwa 60 verschiedene Formen der Intersexualität gibt. Besonders häufig kommt das Ullrich-Turner-Syndrom (UTS) vor: Kinder, die mit dem UTS zur Welt kommen sind körperlich Mädchen, haben auch weibliche Geschlechtsorgane, allerdings sind Eierstöcke und Gebärmutter oft funktionsunfähig. In den meisten Fällen kommt es auch zu keiner Pubertätsentwicklung: die Periode bleibt aus, die Brust wächst nicht.
Ähnliches zeigte sich auch bei Vanja, wie sie in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung erzählte. Letztlich führte es zu einem Dazwischen-Gefühl, sich nicht als Frau, aber auch nicht als Mann fühlen. Vor einigen Jahren beschloss Vanja für ein drittes Geschlecht zu kämpfen - "inter/divers" sollte in das Geburtenregister eingetragen werden können. Der Antrag scheiterte. Der Bundesgerichtshof lehnte ab, da Betroffene seit 2013 das Feld "Geschlecht" in Dokumenten offenlassen können.
Grundrechte verletzt
Das höchste Gericht in Deutschland sah dies aber anders. Der Bundesverfassungsgerichtshof in Karlsruhe gab der Klage nun Recht. Die Richter sehen einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht und gegen das Verbot der Benachteiligung wegen des Geschlechts. Personen, die sich dauerhaft weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen, würden in ihren Grundrechten verletzt, heißt es – wenn sie das Personenstandrecht zwinge, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulasse.
So wie Vanja, die 2013 mit dem Wunsch und der Idee eines anderen Geschlecht als "männlich" oder "weiblich" auf mehrere Menschen zuging. Daraus enstand schließlich die Kampagnengruppe "Dritte Option". Sie plädierte damals für eine Lösung nach dem Vorbild Australiens: Wer sich dort nicht als Frau oder Mann wiederfindet, hat im Ausweis ein "X" stehen – es steht für "Indeterminate/Intersex/Unspecified". Ähnliches gilt in Neuseeland, Indien, Bangladesch und Pakistan. In Nepal gibt es in Dokumenten das dritte Geschlecht als "O" für "other" – andere. In Österreich, wo im Jahr 20 Kinder geboren werden, die nicht als männlich oder weiblich eingeordnet werden können, läuft eine Klage (siehe rechts).
Kleine Revolution
Dass jene Verfassungsbeschwerde von Vanja, die sie gemeinsam mit 100 anderen Betroffenen beim Bundesverfassungsgericht einreichte, erfolgreich war, ist für die Kampagnenführer eine "kleine Revolution."
Für ihre Entscheidung haben sich die Karlsruher Richter jedenfalls Zeit gelassen. Ein Jahr lang holten sie die Stellungnahmen von 16 Verbänden und Organisationen ein. Der Deutsche Ethikrat plädierte dafür, ebenso das Deutsche Institut für Menschenrechte, die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung sowie die Deutsche Gesellschaft für Psychologie. Gegen den Eintrag sprachen sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken sowie der Bundesverband der Deutschen Standesbeamten aus. Sie müssen nun umdenken und der Staat laut Gericht einen bürokratischen und finanziellen "Mehraufwand" für eine weitere einheitliche positive Eintragungsmöglichkeit hinnehmen.
Ehe für alle?
Vanjas Anwältin Katrin Niedenthal geht davon aus, dass sich die Entscheidung auch auf andere Lebensbereiche auswirken wird. Zum Beispiel auf das Eherecht. Denn seit Oktober gilt zwar die "Ehe für alle", aber auch folgender Satz: "Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen." Es schließt daher alle aus, die bisher als "geschlechtslos" galten.
Wovor das Urteil in Karlsruhe ebenfalls nicht schützt: vor den Diskriminierungen im Alltag. In welche Umkleidekabine oder auf welche öffentliche Toilette gehen, mit dieser Frage oder blöden Sprüchen müssen sich intersexuelle Menschen weiterhin auseinandersetzen.
Zumindest die Hoffnung ist da, dass Intersexuelle künftig nicht mehr als exotische Wesen betrachtet werden. "Doch fix ist das nicht", sagt die Psychologin Christina Raviola. "Die Anerkennung als eigenes Geschlecht könnte auch zu einem größeren Stigma führen." Raviola leitet die Familienberatungsstelle für Sexualstörungen.
Wichtig sei, dass Eltern und ihre intersexuellen Kinder von Anfang an intensiv betreut werden. "Da geht es um die Frage: Welche Identität soll gefördert werden? Welches Geschlecht wird konstruiert? Konkret: Bezeichnet man das Kind als ,sie’ oder ,er’? Welche Kleidung wird gewählt?" Durch bessere Untersuchungsmethoden wird heute oft schon während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt festgestellt, dass das Baby weder Bub noch Mädchen ist. "Die Eltern werden aufgeklärt und können sich an Experten wenden." Manchmal entstehen Probleme erst in späteren Differenzierungsphasen, weil Intersexualität viele Ursachen hat.
Die Ausgrenzung habe psychologische Folgen: "Bei jedem Formular müssen wir uns für etwas entscheiden, das wir nicht sind. Oft kommt es zu Konflikten mit der Außenwelt, weil wir uns einem Geschlecht zuordnen müssen, aber nicht dem gängigen Bild entsprechen." Wegen medizinischer Eingriffe in der frühen Kindheit seien viele traumatisiert – intersexuelle Babys werden meist einer geschlechtsanpassenden Operation unterzogen. "Medizinisch sind diese Eingriffe nicht notwendig", sagt Pertl. Aber: "Solange es keine dritte Option gibt, werden sie durchgeführt werden."
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