"Der Westen hat alle Karten in der Hand"

"Der Westen hat alle Karten in der Hand"
Historiker Christopher Clark über den Ersten Weltkrieg und die Krise nach Putins Krim-Annexion

Es ist schon nach kaum einem Jahr zu dem Standardwerk über die Entstehung des Ersten Weltkrieges geworden: Christopher Clarks „Die Schlafwandler“. Am Mittwoch nimmt der in Cambridge lehrende Historiker in Wien dafür den „Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch“ entgegen. Im KURIER-Interview erklärt er, wie Europa 1914 wie auf einer schiefen Ebene in den Krieg rutschte, warum alle Großmächte Verantwortung dafür trugen, und warum so etwas selbst in Zeiten der Ukraine/Russland-Krise heute nicht mehr so leicht passieren kann.

KURIER: Wenn es das Attentat von Sarajewo nicht gegeben hätte, hätte es dann auch den 1. Weltkrieg nicht gegeben? Oder war die Lage in Europa so aufgeheizt, dass jeder andere Funke auch genügt hätte?

Christopher Clark: Ein anderer Funke hätte vielleicht genügt, einen Konflikt irgendwelcher Art auszulösen. Aber Europa hätte dieses Jahr überleben können, ohne einen Weltkrieg. Es gab viele Spannungsquellen, latente Konflikte – aber viele waren in den letzten 18 Monaten vor Ausbruch des Krieges der Meinung, dass die Gefahr eines Krieges im Abflauen war.

Wieso das?

Man hatte zwei Balkankriege ganz gut überstanden, ohne dass das einen großen Krieg ausgelöst hätte. Und es gab Spannungen innerhalb der beiden Bündnisblöcke. Die Briten etwa spielten mit dem Gedanken, die Russen fallen zu lassen und stattdessen eine Verständigung mit Berlin zu suchen. Die Konstellationen in diesem Europa waren „flüssig“.

Trotzdem hatten die Kriegstreiber die Oberhand?

"Der Westen hat alle Karten in der Hand"
Ja. Aber wenn Franz Ferdinand und seine Frau lebend zurück gekehrt wären aus Sarajewo, dann wäre als Nächstes die Absetzung Conrad von Hötzendorfs (österr. Generalstabschef, Anm.) angestanden, das wusste jeder. Damit hätten die Falken ihren mächtigsten Kopf verloren, während Franz-Ferdinand, der ja bald den Kaiser abgelöst hätte, sich immer für Frieden, Ausgleich und Reformen ausgesprochen hatte – ein fragiles Gebilde wie das Habsburger-Reich war nicht im Stande, einen Krieg durchzuführen, das wusste er.

Das heißt, ein Jahr später hätte das Attentat vielleicht nicht mehr diese Folgen gehabt?

Das kann auch sein. Obwohl die Tatsache, dass die Spuren von den Attentätern offenbar in den Staatsapparat Serbiens führten, es dort zumindest Mitwisser unter den Entscheidungsträgern gab, hätte es in jedem Fall zu einem sehr brisanten Fall gemacht. Die Schockwelle über das Doppelattentat war riesig, denn Franz-Ferdinand verkörperte die Zukunft der Monarchie.Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn ein Präsident in spe von einer in Teheran ausgebildeten Schwadron ermordet wird?

Sie haben in ihrem Buch die alte These der deutschen Kriegsschuld widerlegt und die Verantwortung für den Krieg auf alle verteilt – aber am Beginn gab es doch die Ermunterung aus Berlin, gegen Serbien loszuschlagen?

Damit haben die Deutschen ihren sehr wichtigen Teil zur Eskalation der Krise beigetragen. Ich will sie von ihrer Verantwortung nicht freisprechen, ganz im Gegenteil. Aber: Sie hofften auf eine Verbesserung der Beziehungen zu Wien, die durch den britischen Flirt etwas angeschlagen waren, und sie waren fest überzeugt, dass Russland nicht jetzt schon eingreifen würde.

Man hoffte auf einen lokalen Konflikt.

Ja, auch wenn man das Risiko eines breiteren Konflikts in Kauf nahm. Nach dem Motto: Wenn die Russen eingreifen, dann wollen sie sowieso einen Krieg, und dann weichen wir dem nicht aus. Aber: Die Deutschen planten keinen Krieg, dafür gibt es keine Beweise; und die Österreicher wussten schon, was sie mit ihrer Kriegserklärung an Serbien taten, die wurden nicht von den bösen Deutschen hineingetrieben. Für Österreich war die serbische Frage nur militärisch zu lösen – oder durch einen diplomatischen Sieg von solcher Tragweite, wie ihn das Ultimatum an Belgrad (österr. Teilnahme an den Untersuchungen des Attentats, Anm.) nicht herstellen konnte. Auf dessen Annahme Österreich ohnehin nicht hoffte.

Europa war zu der Zeit hochgerüstet, die Bündnisse beäugten einander hochnervös – und trotzdem wollte eigentlich keiner den Krieg. Und dann taumeln alle wie auf einer schiefen Ebene in genau diesen Krieg. Wie kann das sein?

Sie bereiteten sich alle auf einen Krieg vor, den sie nicht wollten, ja. Es gab keinerlei Angriffspläne bei den Großmächten. Aber es gab überall aggressive Stimmen, vor allem in Russland. Und Krieg wurde zunehmend ins Denken integriert. Auch bei den Österreichern und den Deutschen, teilweise auch aus finanziellen Gründen: Weil man sich nicht mehr ständige Übungen und Vormobilisierungen leisten wollte, die dann mit Rückzügen enden ohne Ernte.

War für das Fallen der Dominosteine in Richtung Krieg der Nationalismus und Imperialismus der Zeitz entscheidend oder der Charakter und das Unvermögen handelnder Personen und Strukturen?

Alles spielte eine Rolle, aber sehr wichtig sind schon die Persönlichkeiten und die Strukturen. Der Ort der Entscheidungen war nie ganz klar, wer entschied auch nicht. Aber es hatten überall die Falken das Sagen. Auch wenn das innerhalb der Großmächte sehr umstritten war, da gab es Widerstand und Ablehnung, etwa in England im Kabinett oder in Frankreich, selbst in Russland.

Es waren die falschen Personen in den entscheidenden Positionen.

Ja, für den Frieden die falschen. Denn wenn Falken mit Tauben zusammenstoßen, kommt es sehr selten zum Konflikt, da bremst eine Seite ab, wie jetzt in der Ukraine-Krise. Wenn Falken auf Falken stoßen, dann kracht es.

Europa war 1914 im Aufbruch, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, kulturell und intellektuell – und dann dieser Krieg: War die politische Elite noch nicht reif für das 20. Jahrhundert und steckte im Denken noch im 19.?

Es gab in der Tat eine explosionsartige wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung. Aber man darf nicht vergessen, dass vor allem die Kultur auch eine der Gewalt war – die Menschen wurden gerade durch die Kunst auch auf diesen Krieg vorbereitet. Und außerdem ist die Annahme, dass eine weiterentwickelte Gesellschaft zwangsläufig ohne Krieg lebt, eine sehr europäische Sicht – sonst in der Welt kann man nicht sagen, dass der Krieg als menschheitswidrig gebannt wäre.

Die Schuldfrage für den Krieg wollen Sie nicht stellen, sondern nur das Wie beschreiben. Aber Auslöser war jedenfalls der serbische Nationalismus?

Die Serben haben auch ein Recht auf ihren Nationalismus. Sie wollten nichts anderes, als die Italiener oder Deutschen auch erreicht hatten: Einen Nationalstaat herstellen, wenn nötig auch mit Gewalt. Und Serbien hatte eine politische Kultur entwickelt, wo das nationale Projekt ohne bewaffneten Kampf nicht denkbar war.

Sie haben die Ukraine schon erwähnt: Putin holt sich die russische Einflusssphäre zurück, der Westen reagiert geschockt und mit Sanktionen. Ist eine Verkettung von Fehleinschätzungen, falschen Entscheidungen wie 1914 auch heute noch möglich, oder haben wir aus 1914 gelernt?

Ich glaube in der Tat, wir haben ein bisschen gelernt, obwohl die Geschichte grundsätzlich keine Lehren erteilt. Durch die Erschütterungen aus beiden Weltkriegen sind neue Strukturen entstanden, die besser sind als damals. Es gibt Gremien und Instanzen, die schlichten können – auch wenn keine davon gegriffen hat in der gegenwärtigen Krise, die Diskrepanz zwischen Machtpolitik und Völkerrecht bricht immer wieder auf. Aber das Chaos der Entscheidungsfindung von 1914 gibt es nicht, Herr Steinmeier und Frau Merkel führen keine aufheizende und aufgeilende rhetorische Offensive wie das damals so viele Politiker getan haben – das ist eine Sprache der Zurückhaltung, der Wohlüberlegtheit, der Ruhe. Auch Barack Obama hat mit sehr viel Zurückhaltung reagiert. Und selbst Wladimir Putin hat bisher mehr gebellt als gebissen …

Die territoriale Annexion der Krim durch Referendum unter Waffen war nur Bellen?

Das ist eine Annexion mit völlig illegalen Mitteln, natürlich, und das wird Konsequenzen haben, auch längerfristig. Aber geordnet, weil niemand einen Krieg will. Klar, wenn die Russen in Polen oder im Baltikum so vorgehen würden wie auf der Krim, dann hätten wir ein ganz anderes Szenario. In der Ukraine ist die Lage ein bisschen komplexer aufgrund seiner Geschichte mit der Annexion schon im 17. Jahrhundert – sie ist ein besonderer Fall, und es geht nur um die Methoden, mit denen Putin vorgeht.

Aber wenn Russland weiter expandiert, Weißrussland ...

Weißrussland ist ja schon ein Satellitenstaat. Der Kaukasus könnte weitere solche Überraschungen bringen. Man darf aber auch die Russen nicht immer zum Schwarzen Peter machen – in Georgien seinerzeit war es nicht ganz klar, ob die Russen die ersten Schüsse abgegeben haben, das ist auch sehr komplex.

Faktum ist: Europa hat sich nach dem Fall der Mauer unter dem Titel Friedensprojekt nach Osten ausgedehnt, Russland war schwach. Jetzt will sich Russland seine Stärke zurückholen.

Ja, jetzt bläst Russland zurück. Zumal die Ausdehnung Europas und die Konsolidierung als Währungsgemeinschaft zwei zum Teil widersprüchliche Projekte sind – Europa hat nicht die Mittel, diese Ausdehnungspolitik machtpolitisch zu untermauern.

Da kommt die Nato ins Spiel.

Genau, der Zusammenhang zwischen Europa und Nato ist wichtiger denn je. Ohne Nato-Muskeln kann Europa nicht bestehen.

Und das ist kein Anlass zur Sorge?

Seinerzeit war das fragile Gleichgewicht zwischen zwei Blöcken sehr wichtig. Heute besteht so ein Gleichgewicht nicht – wir sind die Starken, der Westen hat fast alle Karten in der Hand. Das ist ein Argument für ein sehr wohlüberlegtes und ruhiges Handeln. Entschlossen, wenn es um Prinzipienfragen geht, die für den Fortbestand Europas wichtig sind wie zum Beispiel die Sicherheit Polens und der baltischen Staaten, aber flexibel und bereit, auch die Perspektiven und Interessen der Russen zu sehen – die kann man nicht auf Putin reduzieren und sagen, das ist ein Verrückter.

Das KURIER-Special zu 1914 finden Sie hier.

Zur Person

Christopher Clark, 1960 in Sidney geboren, studierte in Sydney, Berlin und Cambridge Geschichte. Heute lehrt der Professor (Forschungsschwerpunkt preußische Geschichte) am St. Catharine’s College in Cambridge. In seinem Werk "Die Schlafwandler" stellt er die besondere Kriegsschuld Deutschlands 1914 infrage.

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